Ein Wald, ein Haus, ein Milchzahn

Helene Bukowskis Debüt Milchzähne führt die Leser*innen in eine Welt, in der das Vergangene überwunden oder die Zukunft noch nicht begonnen hat. In einer kleinen Gemeinschaft, der sogenannten Gegend, lebt Skalde mit ihrer Mutter Edith. Als ein rothaariges Kind auftaucht und Skalde beschließt es aufzunehmen, stellt sich nicht nur Edith, sondern die ganze Gegend gegen sie.

Foto Karolin Kolbe

Als Skalde klein war, brachte ihre Mutter Edith ihr das Lesen bei. In einem Haus voller Bücher wächst das Mädchen in harmonischer Symbiose mit Edith auf. Sie lernt von ihr, was für das Überleben wichtig ist: Kartoffeln ernten, Kaninchen schlachten und Brennessel-Jauche herstellen. Die beiden leben als Selbstversorgerinnen nahe des Waldes. Der leere Pool im Garten gibt Hinweis darauf, dass das Leben hier vielleicht auch einmal anders war. Weniger einsam, mehr gemeinsam und vor allem irgendwie gegenwärtiger.

Der erste Milchzahn

Skaldes Leben verändert sich, als ihr erster Milchzahn herausfällt. Ab dem Moment wendet sich ihre Mutter von ihr ab. Skalde übernimmt im Laufe der Zeit die Rolle der Versorgerin, während ihre Mutter im selbstgenähten Kaninchenfellmantel vor sich hin vegetiert. Man möchte diese Frau schüttelt, wenn sie die Tochter ohne Erklärung von sich zu stoßen scheint und das Mädchen beginnen muss, sich allein am Leben zu halten. Denn Edith muss nicht essen. Edith kann auf dem Sofa sitzen und starren oder Vorwürfe machen.

Skalde wird älter, ist kein Mädchen mehr. Ein neues Kind wird Teil des Hauses. Plötzlich steht Meisis im Wald: rothaarig, etwas wortkarg und verloren. Was Skalde tut, ist ein Affront: sie nimmt das Mädchen mit zu sich nach Hause. Edith verlangt, sie erneut im Wald auszusetzen, doch Skalde hat schon lange aufgehört, den Worten ihrer Mutter zu folgen. Stattdessen lässt sie Meisis Teil ihres eigenen Lebens werden.

Ich zeigte Meisis auch den Rest des Hauses. Wir gingen alle Räume ab. Manchmal berührte sie die Wände, als wollte sie fühlen, was unter der Tapete lag. „Wohnst du schon immer hier?“, fragte sie mich und schob ihre Hand in meine. „Schon immer“, antwortete ich. „Das gefällt mir, nie den Ort gewechselt zu haben“, sagte sie. Darauf wusste ich nichts zu erwidern.

Skalde richtet ihr einen Platz auf dem Dachboden ein und erst jetzt treten weitere Bewohner*innen der Gegend hinzu. Helene Bukowski spielt am Anfang des Romans mit der scheinbaren totalen Einsamkeit von Skalde und Edith. Doch es gibt mehr Menschen hier, eine eingeschworene Gemeinschaft mit klaren Regeln, mit einem Tauschmarkt und mit einem höchsten Gebot: niemals dürfen Fremde in die Gegend kommen.

Hör zu, Skalde, das Ganze hast du dir selbst eingebrockt. Stell dir vor, wir alle würden einfach tun, worauf wir gerade Lust haben, ohne auch nur einmal darüber nachzudenken, wie sich das auf die anderen auswirkt, welche Konsequenzen das nach sich zieht. Hier in der Gegend gehört es sich, dass man sich an den anderen orientiert, sich anpasst. Das ist der Grund, aus dem es uns noch relativ gut geht.

Irgendwann vor langer Zeit hat die Gegend die letzte Brücke über den Fluss zum Rest der Welt, zu den anderen, gesprengt, um für immer unter sich bleiben zu können. Niemand versteht, wie Meisis es hierher schaffen konnte.

Zwischen Märchen und Dystopie

Bukowskis Debüt erschafft eine Welt, die mal märchenhaft, mal dystopisch erscheint. Die Menschen in der Gegend glauben an Wechselbälger, die mächtig genug sind, andere verschwinden zu lassen. Zugleich werden Hinweise auf die Vergangenheit gegeben, welche die Gegenwart zur Dystopie werden lassen. Früher war es nicht so heiß, wie heute, früher gab es noch Regen und Kälte und nicht nur den endlosen Sommer. Da kommen Gedanken an den Klimawandel hoch, an Naturkatastrophen, ein Fingerzeig darauf, dass Skalde, Edith und Meisis vielleicht jenseits unserer Gegenwart leben. Bukowski beschreibt die Sehnsucht nach dem rettenden Meer, bei dem es vielleicht noch ein bisschen besser auszuhalten ist, als in der Gegend. Doch die Tiere, die vom Meer kommen, sind krank, ihr Fell verblasst. Man kann das Meer schmecken, das Fleisch dieser Tiere ist salzig. Auch die Möwen, die vom Meer kommen, fallen plötzlich vom Himmel. Wie in Die Vögel gibt es keine Erklärung dafür. In anderen Momenten wiederum wirkt die Gegend rückständig, als hätte sie ein paar Schritte verpasst: Videorekorder werden noch benutzt, Computer scheint es nicht zu geben. Die Autorin legt sich auf keine Zeit fest, auf keinen Ort, sie changiert mit den Hinweisen auf Zukunft, Vergangenheit oder einfach auf eine völlig andersartige märchenhafte Parallelwelt.

Eine Entscheidung?

Skalde beschließt einen Kompromiss mit der Gegend, denn das Leben ist besser für sie geworden, seit sie die Verantwortung für Meisis übernommen hat.

Mit dem Kind im Haus sind die Nächte heller geworden. Die Dunkelheit ist jetzt weich wie ein Mantel aus Pelz. Ich lege sie mir um die Schultern.

Skalde denkt keine Sekunde darüber nach, ob sie das Kind ausliefern sollte. Innerhalb weniger Wochen muss sie beweisen, dass Meisis kein Wechselbalg ist. Und dieser Beweis hat etwas mit Milchzähnen zu tun.

Helene Bukowskis Sprache ist dicht, die Kapitel manchmal nur eine halbe Seite lang. Die Leser*innen bleiben bei Skalde, die Teil der Gegend ist, aber irgendwie auch nicht. Beeindruckend, wie Bukowski Fakten schafft, ohne sie zu erklären oder zu hinterfragen. Die verblassenden Tiere, die Mutter, die nicht essen muss, der Glaube an Märchen und Sagen. Es sind kleine Verschiebungen von dem, was wir kennen, die den Roman ehrlich und besonders machen. Schön sind auch die lyrischen Elemente, die Bukowski einstreut. Skalde schreibt ihre Gedanken und Gefühle auf kleine Zetttel und verteilt diese überall im Haus. Und während ihr Leben immer mehr zusammenbricht, während die Geschichte dem Ende entgegenrast, sammeln sich die kleinen Zettel in jeder Ritze des chaotischen Gebäudes, die Skaldes Inneres fortwährend offenlegen:

Es kommt mir vor, als wären die Mauern des Hauses aus Papier, die Wände viel zu fragil, als ließe es sich nur in wenigen Handgriffen zusammenfalten, niederbrennen, in Schutt uns Asche legen.

So wie vielleicht die ganze Gegend.


Helene Bukowski: Milchzähne, Blumenbar 2019.
Karolin Kolbe
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