Gelernt und nicht verloren

Literatur unterhält, inspiriert und bildet – und ist Zuflucht in widrigen Zeiten. Doch wer nach Deutschland flieht, hat selten Bücher im Gepäck. Seit kurzem versorgt die Asylothek die Bewohner der Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Flughafen Tempelhof mit Lesestoff.

Asylothek
© Asylothek Berlin

In den Wohncontainern der Flüchtlingsunterkunft auf dem ehemaligen Tempelhofer Flughafen staut sich die heiße Sommerluft. Rund 1700 Menschen sind derzeit hier untergebracht. Für viele von ihnen besteht der Alltag aus Deutsch lernen, Fußballspielen – und Warten. Wie oder wann es weitergeht, wissen die meisten nicht. Bücher sind ein idealer Begleiter wenn es darum geht, unausgefüllte Stunden sinnvoll zu überbrücken. Literatur bildet nicht nur und schafft Zugang zu Sprache und Kultur. Sie erlaubt uns auch, in eine andere Welt abzutauchen und die Außenwelt für einen Moment zu vergessen. Doch wer nach Deutschland geflohen ist, hat selten Literatur mitgenommen.

Bücher in der Flüchtlingsunterkunft

Titelbild
© Friederike Oertel

Ein neues Projekt will die Bewohner von Tempelhof nun mit Lesestoff versorgen: Im Mai eröffnete hier die Asylothek, eine Bibliothek, die ihr Angebot auf Geflüchtete ausrichtet: „Es gibt nicht nur deutsche Literatur, Deutschlernbücher, Wörterbücher und Informationen rund um Berlin“, sagt Suzanne Visentini, Sprecherin der Asylothek. „Das Besondere ist, dass die Bewohner auch Literatur in ihrer Landessprache ausleihen können, zum Beispiel Arabisch, Farsi oder Serbisch.“ Demnächst soll das Angebot um Comics und Bildbände erweitert werden, denn hier sei die Nachfrage besonders hoch.

Betrieb und Finanzierung erfolgen auf rein ehrenamtlicher Basis und durch Spenden. Vorbild ist das Projekt des Architekten Günter Reichert, der 2012 die erste Asylothek in Nürnberg initiierte. Grund für sein Engagement war das Fehlen von Bildungsangeboten in Erstaufnahmestellen und Gemeinschaftsunterkünften. Der Weg zu öffentlichen Bibliotheken stellt für die Bewohner oft eine Hemmschwelle dar: Es bestehen Unklarheiten über Ausleihmodalitäten, das Angebot erscheint unübersichtlich und die deutschsprachige Literatur ist für Sprachneulinge oft kompliziert. Reicherts Konzept hatte Erfolg: Inzwischen wurden in ganz Deutschland rund 50 Asylotheken eröffnet. Auch Suzanne, die als Lizenzmanagerin in einem Wissenschaftsverlag täglich mit Büchern zu tun hat, war überzeugt.

Literatur als Asyl

Die Tempelhofer Asylothek teilt sich den kleinen Raum im Hangar 1 mit einem Café der Initiative THF-Welcome, die im Zimmer nebenan eine Kleiderkammer betreibt. Auf der einen Seite stehen weiße Bücherregale, auf der anderen Seite eine zusammengezimmerte Bar, ein Sammelsurium aus alten Sofas und eine gemütliche Leseecke. Sogar eine kleine Bühne hat Platz gefunden. Am Tresen gibt es Kaffee, Limos und sirupverklebtes Baklava. Gezahlt wird auf Spendenbasis. „Wir wollen, dass jeder hierher kommen kann und ein gemütlicher Aufenthaltsraum entsteht“, sagt Richard Lemmer, Vorstand von THF-Welcome.

Asylothek Tamaja
© Tamaja

Die Kaffeetassen klappern, draußen spielen Kinder und wenn die Kleiderkammer geöffnet ist, herrscht Hochbetrieb. Anders als andere Bibliotheken ist die Asylothek mehr Begegnungsort als stiller Lernort: „Ich komme hierher, um Kaffee zu trinken und meine Freunde zu treffen“, sagt der 19-jährige Osman aus Eritrea, der auf einem der Barhocker sitzt. Sein Freund Said interessiert sich vor allem für Deutschlernbücher. Suzanne bestätigt, dass die Nachfrage in diesem Bereich besonders hoch ist. Trotzdem kommen viele einfach nur zum Schmökern oder Reinblättern. Ziel ist, der Langeweile entgegenzuwirken und den Alltag so erträglich wie möglich zu machen. „Außerdem versuchen wir, mit unserem Angebot aktiv auf Frauen zuzugehen, da sie traditionell diejenigen sind, die weniger Zugang zu Bildung erhalten“, erklärt Suzanne.

Eine Brücke schlagen

Perspektivisch sollen sowohl Café als auch Asylothek von den Bewohnern selbst betrieben werden und dabei eine Brückenfunktion erfüllen, die Berlinerinnen und Berliner mit Geflüchteten zusammenbringt. Ein kleines Manko: Der Raum ist schwer zu erreichen. Vom Platz der Luftbrücke über den Columbiadamm ist es ein kleiner Fußmarsch, der zwischen Hangar 3 und 4 durch eine Sicherheitsschranke am Eingang führt. Laufkundschaft verirrt sich selten hierher. Auch deshalb beschränken sich die Nutzer derzeit noch auf Bewohner aus den angrenzenden Hangars und eine Handvoll Ehrenamtliche.

Das soll sich ändern: „Wir werden alles tun, damit unsere Bibliothek ein öffentlicher Begegnungsort für Sprach- und Kulturvermittlung wird“, sagt Suzanne. Geplant sind Veranstaltungen, die mit freiwilligen Helfern und in Zusammenarbeit mit THF-Welcome auf die Beine gestellt werden. Im Juni fanden bereits Konzerte und zwei Filmabende statt. Wichtig ist allen Beteiligten, dass der Austausch beidseitig ist und auch Berlinerinnen und Berliner Neues erfahren: So soll es schon bald mehrere Erzählabende geben, die an die lange Tradition der mündlichen Erzählkunst in der arabischen Kultur anknüpfen. An diesen Abenden teilen Menschen, die auf der Flucht womöglich alles verloren haben, ihre Gedanken und ihr Wissen und zeigen eines ganz deutlich: Gelerntes kann man nicht verlieren.

 

Öffnungszeiten der Asylothek

Montag 18 – 20 Uhr
Dienstag 16 – 20 Uhr
Mittwoch 14 – 20 Uhr
Donnerstag 15 – 19 Uhr
Freitag 15 – 20 Uhr
Samstag 14 – 17 Uhr
Sonntag geschlossen

Du willst mitmachen?

Melde dich per Mail:
berlin.mitmachen@asylothek.de

 

 

Friederike Oertel
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