In seiner »Weltgeographie« machte Reclus bei der Behandlung Brasiliens darauf aufmerksam, wie notwendig es sei, die aus dem Tupi stammenden Ortsnamen in unserem Land zu erhalten. Sie haben, so der große Geograph, den Vorteil, dass fast alle von ihnen eine äußerst klare, unzweideutige Bedeutung haben. Diese Namen weisen nämlich auf Naturerscheinungen hin: Sie bezeichnen die Farbe der Flussläufe, die Höhe, die Form oder das Aussehen der Felsen, die Vegetation oder die Trockenheit eines Gebietes.
In Rio de Janeiro gibt es in der Tat Tupinamen, die mit so viel Beredsamkeit den Charakter und die Reize der Gegenden ausdrücken, dass wir, wenn wir ihre Bedeutung erfahren, geradezu verblüfft sind über die poetische Kraft und das hohe Maß an Gefühlsstärke, die die primitiven Kannibalen dieses Gebietes angesichts der so schönen und einmaligen Natur um die Stadt herum an den Tag legten. Das zeigen schon die Namen der Bucht. Wie gut drückt doch der Name Guanabara – Busen des Meeres – eine Verführungskraft, Zurückhaltung und einen Zauber aus? Und wenn das Meer hier einen Busen bildete, so deshalb, um in ihm sein Wasser zu verbergen: Niterói – das verborgene Wasser.
Diese Tupinamen sind die ältesten Dokumente der Menschen, die hier lebten und starben, und doch verhältnismäßig jung. Die Stadt Rio de Janeiro wurde auf dem ältesten Boden der Erde errichtet, aber bis heute finden sich keinerlei Spuren eines prähistorischen Lebens, keine direkten oder indirekten Spuren einer vergangenen Existenz.
Es scheint das Schicksal dieser Gebiete zu sein, dass sie keine Eindrücke bewahren durften von den aufeinanderfolgenden Generationen, auch wenn sie deren Kommen und Gehen miterlebten. Selbst die indianischen Namen verschwinden allmählich, und jedermann weiß, dass ein Trupp Arbeiter, der bei irgendwelchen Ausschachtungsarbeiten eine indianische Urne findet, sich gleich daran macht, sie zu öffnen und dann zu zerschlagen, als wäre es etwas Teuflisches, als wäre es etwas Unwürdiges für uns Menschen von heute. Das einfache Totengefäß der Tamoyos wird erbarmungslos geopfert.
Die Erzeugnisse der Indios und alle ihre Bauwerke waren zerbrechlich; zerbrechlich sind auch unsere Bauten von heute. Die ältesten Monumente von Rio sind nämlich nur anderthalb Jahrhunderte alt, obwohl die Stadt bald auf eine vierhundertjährige Tradition zurückblicken kann.
Unser ehrwürdiger Granit, der so alt ist wie die Erde und auf dem die Stadt ruht, will absolut nur das Zerbrechliche, das Kurzlebige. Noch heute beherrscht dieser Geist die Bauweise unserer öffentlichen und privaten Gebäude, die jeden Augenblick zu bersten und einzustürzen drohen. Es ist so, als wollte die Erde nicht, dass andere Schöpfungen oder Lebewesen auf ihr bestehen bleiben als die Wälder, die sie hervorbringt, und die Tiere, die sie bewohnen. Dennoch lässt die Erde sie entstehen, und für einen Augenblick trägt sie Geschöpfe, die dann wieder verschwinden müssen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Welch seltsame Laune!
Sie will ein Ort der Sammlung und der Ruhe für den Strudel sein, der die Schöpfung zu einer ständigen Veränderung der Lebewesen mitreißt. Nur das will sie sein, und sie bleibt fest und unerschütterlich, indem sie Leben schafft und in sich aufnimmt. Doch geschieht es so, dass die Nachfolgenden nicht wissen können, wer ihnen vorangegangen ist.
Wie viele Formen des Lebens hat dieses Land schon gesehen, seitdem seine Felsen entstanden sind? Zahllose, Tausende. Doch von keiner wollte es eine Erinnerung, eine Reliquie zurückbehalten. Das Leben sollte nicht glauben, es könne mit der Ewigkeit dieses Landes rivalisieren.
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