Kennen ist anders – Ein Erfahrungsbericht zur Schlingensief-Ausstellung

Es ist dunkel. Projektionen an der Holzkonstruktion und flimmernde Fernsehbildschirme erhellen den Raum ab und zu. Ein paar Lämpchen hier und da geben Flackerlicht. Ansonsten düster. Ein Bunker oder eine Art Kapsel, Sofas, vollgekritzelte, halbtapezierte Holzwände, verstörende, ja wirklich ziemlich verstörende Bilder im TV. Blut, nackte Menschen, seltsame Szenen. Hitlerparodien sind überall. Mal hier an der Wand, mal dort auf dem Schirm. Alles bewegt sich, denn der „Animatograph“ steht auf einer riesigen Drehscheibe. Und man selbst auf dem Animatographen.

picture alliance / dpa /Aino Laberenz/ Filmgalerie 451
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Wie ein Magnet

Christoph Schlingensief ist in der Stadt. Besser gesagt, er war es – bis Sonntag Punkt 19 Uhr. Noch besser gesagt, es war eine Ausstellung seines Werks, posthum zusammen getragen und in Szene gesetzt vom KW Institute for Contemporary Art.
Schlingensief. Das ist doch der mit dem Möllemann. Der hat doch den Kohl mal so veräppelt im Wahlkampf. Ach ja, der. Jeder kennt Christoph Schlingensief. Die Ausstellung ist zu gut besucht, um alle Installationen nutzen zu können. Jeder kennt ihn. Die Menschenschlange schlängelt sich durch den Innenhof, alles für ein Ticket. Jeder glaubt, Schlingensief zu kennen und erinnert sich an einzelne Schlagzeilen des Regisseurs, Provokateurs, Querdenkers. Doch keiner kennt ihn wirklich und man selbst am allerwenigsten – das weiß der Ausstellungsbesucher spätestens auf dem Nachhauseweg.

Drei Etagen und unzählige Projekte

Sieben Wochen lang konnten die Berliner sich in die Räume begeben, in denen sämtliche Projekte, Installationen und Ideen des 2010 verstorbenen Künstlers ausgestellt wurden. Und dabei tappte man oft nicht nur aus lichttechnischen Gründen im Dunkeln.
Ah, stimmt, das Operndorf in Burkina Faso, hört man es da murmeln. Das kennt man doch. 2008 begann Schlingensief mit der Umsetzung des Gedankens, eine kulturelle Begegnungs- und Experimentierstätte in Afrika zu schaffen. Inzwischen gibt es dort auch eine Grundschule mit künstlerischem Schwerpunkt. Das Dorf gehört zu seinen zentralen und kontinuierlichen Projekten und auch nach seinem Tod wächst es und wächst. In einem anderen Raum der Ausstellung schämt man sich. Zu intim sind die Bilder auf dem Schirm und doch rührt sich keiner vom Fleck. Kollektivstarren auf den Fernsehapparat. Im ersten Obergeschoss ist es schwierig, einen der Kopfhörer zu ergattern, mit dem man sich Interviews oder Ausschnitte aus Schlingensiefs Sendungen wie Talk 2000 oder U3000 anhören und ansehen kann. Die Gesichter der Besucher sprechen Bände. Humor hatte er ja auch, der Schlingensief. Und ganz schön provokant war er.
Politische Aktionen, ach, ich erinnere mich. Obwohl, das mit Möllemann, oha. Im Rahmen seiner „Aktion 18“ im Jahr 2002 hatte Schlingensief im Duisburger Theater mit „Tötet Möllemann“-Rufen einen riesen Skandal verursacht. Und auch sein Projekt „Bitte liebt Österreich“ bei den Wiener Festwochen 2000 gehört zu den provokantesten Maßnahmen des Regisseurs. Dazu ließ er zwölf als Asylbewerber anmoderierte Teilnehmer in ein Big-Brother-ähnliches Containerdorf direkt vor der Staatsoper einziehen. Auf dem Dach wehte die Flagge der rechtspopulistischen FPÖ. Jeden Abend um 20 Uhr wurden zwei Bewohner aus den Containern gewählt, um in ihr Heimatland abgeschoben zu werden. Schlingensiefs Plan war, den Österreichern mit drastischen Mitteln vor Augen zu führen, was passiere, wenn die Ankündigungen Jörg Haiders tatsächlich wahr würden. Ziemlich mutig, ziemlich klug, ziemlich provokant, zynisch, einzigartig.
Im zweiten Stock laufen vier seiner Filme parallel. Stimmt ja, der Mann war schließlich Regisseur. Ganz ursprünglich. Und immer wieder zwischendurch eben. So richtig niedergelassen haben sich die Leute hier oben. Es herrscht die absolute Kinoatmosphäre rund um die wiederum verstörenden Bilder und permanenten Kettensägengeräusche aus Schlingensiefs Deutschland-Trilogie.

Mit den Symptomen einer Reizüberflutung

Wenn man draußen ist, leidet man an Reizüberflutung. Das ist zwar keine so richtig anerkannte Krankheit, aber man kennt die Symptome, die man nach einer sehr gut gemachten Ausstellung vielleicht manchmal hat. Dieses Gefühl, Dinge nicht verstanden zu haben, unfähig, auch nur irgendeine Interpretation des Werks fertig zu denken. Vieles ist klar, vieles braucht keine Interpretation. Doch ungefähr genauso viel ist eben nicht klar. Wenn der Besucher dann so wühlt und forscht und sucht in seinem Kopf, während er zur U-Bahn-Station Rosenthaler Platz läuft, da fällt ihm vielleicht eine minikleine Sequenz ein aus einem Interview, erster Stock, mit Schlingensief himself, die ungefähr so lautete: „Was der damit wollte, das ist nicht die Frage, die sich die Leute stellen sollen. Es geht ja darum, was sie letzten Endes daraus machen.“ Und dann ist man ein bisschen erleichtert.

Eva Schneider

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