Vom Meer entrissen

Wie geht man mit der Trauer um, wenn eine geliebte Person stirbt? In ihrem Debütroman Marianengraben beschreibt Jasmin Schreiber wie es gelingen kann, aus der Tiefe der Trauer aufzutauchen und ins Leben zurückzufinden.

Marianengraben Foto: Eileen Schüler

Paula existiert nur noch nach dem Tod ihres jüngeren Bruders Tim. Sie lebt nicht mehr. Vor lauter Schuldgefühlen fällt sie in eine tiefe Depression und schafft es nicht, an ihrer Doktorarbeit zu schreiben. Selbst eine Therapie hilft ihr nicht wirklich ins Leben zurückzukehren. Als sie nachts auf dem Friedhof heimlich das Grab ihres kleinen Bruders besucht, begegnet sie dem 83-jährigen Helmut. Obwohl Paula ihn kaum kennt, entschließt sie sich spontan mit ihm in die Alpen zu fahren. Ein spannender Roadtrip beginnt und führt dazu, dass beide zu sich selbst finden und die Trauer zusammen bewältigen.

Aus der Tiefe langsam auftauchen

„Trauer war kompliziert“ und das Sterben sowieso „eine grausame Ungeheuerlichkeit“, stellt Paula fest. Es ist generell ein schwieriges Thema, über das sich nicht leicht schreiben lässt. Jasmin Schreiber beschreibt in ihrem Debüt jedoch die Grenze zwischen Leben und Tod sehr feinfühlig und berührend. Aus der Sicht der Protagonistin werden immer wieder liebevoll Erinnerungen, Anekdoten, kleine Details über Tim erzählt.

Ich denke daran, wie wir zusammen über Biologie-Bücher gebeugt saßen und den Tieren neuen und in deinen Augen bessere Namen gaben.

Obwohl Tim nicht mehr da ist, begleitet er Paula in Gedanken überall hin, weil sie in manchen Situationen überlegt, was er gesagt, gedacht oder „megakrass“ und „piratenmäßig“ gefunden hätte. Durch die Dialogsituation zwischen der Ich-Erzählerin und dem Du wirkt der Roman sehr lebendig, als wäre der „Abenteuerer, Mereresforscher, weltbeste Schwimmer, Bruder und Sohn“ Tim noch unter den Lebenden. Auf die Frage, wie lieb er sie habe, erwidert er dann:

Ich habe dich auch so doll lieb, wie tief der Marianengraben ist.

Der Marianengraben ist 11.000 Meter tief und damit die tiefste Stelle des Pazifischen Ozeans. Nach dieser Tiefseerinne hat Schreiber ihren Debütroman benannt. Der Titel ist schlau gewählt, denn dadurch entsteht eine gute Verbindung zur Struktur des Romans. Die Kapitelüberschriften sind mit Zahlen versehen, sodass das erste Kapitel mit der Zahl „11000“ und das letzte mit „0“ endet. Kapitel für Kapitel taucht die Protagonistin aus der Tiefe ihrer Gefühle an die Oberfläche und kehrt somit langsam ins Leben zurück. Allerdings nur mit der Hilfe von Helmut.

Hoffnung und Kraft für neuen Lebensmut

Wenn Trauer eine Sprache wäre, hatte ich jetzt zum ersten Mal jemanden getroffen, der sie genau so flüssig sprach wie ich […],

denkt Paula als sie Helmut nach ihrer skurrilen Begegnung auf dem Friedhof näher kennenlernt. Er wirkt zuerst wie ein seltsamer alter Kauz, der nur dann spricht, wenn es ihm gerade passt. In manchen Momenten zeigt er allerdings auch seine sensible Seite, teilt seine persönlichen Erinnerungen mit Paula und findet tröstende Worte für sie. Obwohl die beiden sich nicht wirklich gut kennen und durch das höfliche Siezen die Distanz wahren, werden sie füreinander zu wichtigen Wegbegleiter*innen. Die Hoffnung und die Kraft, die sich die beiden Figuren gegenseitig geben, schwappen über das Buch hinaus und treffen die Leser*innen mitten ins Herz. Dies geschieht vor allem durch Schreibers einzigartigen Erzählstil, der, trotz der schmerzvollen Erlebnisse und Erinnerungen, in einem heiteren Ton gestimmt ist.

Auf der Berliner Buchpremiere im silent green Kulturquartier sagte Jasmin Schreiber, dass ihr Debüt kein geplantes Buch für Trauerbewältigung gewesen sei. Sie sei deshalb darüber überrascht, wenn ihr Leser*innen auf Twitter schreiben, dass es ihnen dabei geholfen habe.

Die 1988-geborene Autorin ist studierte Biologin und arbeitet als Kommunikationsexpertin. Ihr biologisches Know-how ist im Roman ebenfalls gegenwärtig: Auf 252 Seiten spielen viele Tiere eine wichtige Rolle, wie beispielsweise ein Hund und ein Huhn. „Wenn ich schreibe, denke ich immer an Viechkram“, erzählte Jasmin Schreiber.

Das Debüt wirkt sehr authentisch. Viele Details hat Jasmin Schreiber aus ihrem Leben genommen, weil das Leben bekanntlich auch die besten Geschichten schreibt. Allerdings verweist sie darauf, dass das Buch nicht autobiografisch, sondern natürlich reine Fiktion ist. Eine Geschichte, die von den ersten Zeilen an tief in den Bann zieht, gleichzeitig ernsthaft und witzig ist.

Jasmin Schreiber: Marianengraben, Eichborn Verlag, 2020.
Eileen Schüler

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen