Orpheus in der Unterwelt.
Sten Reen: Kornblum – sprachmächtig und verstörend

Vorsicht: Verbrennungsgefahr! Die Hotlist ist die Antwort der unabhängigen Verlage auf die Long-, Short- und sonstigen Listen mit denen alljährlich die Jury des Deutschen Buchpreises einen Ein-Jahres-Lesekanon aufstellt, kräftig unterstützt vom Feuilleton, das sich im Dominoeffekt diesem Lektürediktat unterwirft. Gegen die Listenherrschaft hilft nur eine List: eine Hotlist! Die unabhängigen, kleinen, jungen Verlage finden ihre Titel nur selten auf der Buchpreisliste wieder – und dümpeln so unverdient oft unterhalb der Wahrnemmungsschwelle. Die heiße (oder scharfe?) Liste soll das ändern, in diesem Jahr wird sie sogar per Publikumsabstimmung bestückt. Litaffin hat sich ausgewählte Titel aus dem langen Vorschlagskatalog herausgepickt, um vorzukosten, ob da wirklich alles so „hot“ gegessen wie es gekocht wird.

Welchen Himmelsfahrten und Höllenritten kann das intensivste aller menschlichen Gefühle standhalten? In seinem Debütroman Kornblum erzählt der unter Pseudonym schreibende Sten Reen eine ebenso sprachmächtige wie verstörende Geschichte einer Liebe der Extreme.

Geburtstage sind für Robert Kornblum, Dachdecker und Gelegenheitsbauarbeiter, Halbintellektueller, in Berlin gestrandete Existenz, eine flüssige Angelegenheit. Seit drei Jahren ist er trocken, nur an diesem einem Tag erlaubt er sich das gnädige Abgleiten in die Besinnungslosigkeit. Als er nach solch einer durchzechten Nacht mit Filmriss wieder aufwacht, sieht er sich mit einer Frau konfrontiert, die nur mal eben Frühstücksbrötchen holen war und der er in der offensichtlich durchvögelten Nacht einen Antrag gemacht hat. Vor ihm steht Theresa, genannt Terri, Mind, keine Heilige und über einen durchaus sprechenden Namen verfügend, wie sich noch erweisen wird.

Der weitere Verlauf der Handlung gleicht einem unabänderlichen Naturgeschehen. Die beiden verlieben sich halt- und rettungslos ineinander („ineinander“ verbringen sie tatsächlich weite Strecken des Buches) und beginnen gemeinsam mit Terris kleinem Sohn ein scheinbar harmonisches Leben inmitten des Moabiter Kneipenmilieus. Das nutzt der Autor für eine genüssliche Sozialstudie: der serbische Wirt mit kroatischer Frau, der Quoten-Trockene, der gescheiterte Akademiker, die einsame Witwe, die ein Ein-Frau-Unternehmen führende Prostituierte, das Contergan-geschädigte aber umso trinkfestere Männlein. Sie alle werden mit derbem Kneipenjargon, enormer Sprachlust und Witz vorgeführt.

Dass der Schein jedoch trügt und Kornblum offenen Auges in eine Katastrophe schlittert, sozusagen „terrisiert“ wird, ahnt der Leser früh – viel früher als der gutmütige, liebestrottelige Kornblum selbst. Sten Reen bedient sich des narrativen Tricks, aus zweifacher, zuweilen auch dreifacher Perspektive zu erzählen, was ihm jedoch nicht völlig überzeugend gelingen will. Was Kornblum als eigentlicher Ich-Erzähler nicht wissen kann, erfährt der Leser durch Terri, und den Rest besorgt eine sich kaum abgrenzende Erzählinstanz. So weiß man nicht nur um Terris rätselhafte, unvorhersehbar von einem Extrem ins andere kippende Launen und ihre stete innere Unruhe, sondern auch um ihre heimlichen Seitensprünge und Sauftouren. Als schließlich nach einer Notfall-Einlieferung Terris in die Psychiatrie die Diagnose „Borderline“ fällt, kommen sich die Erzählinstanzen gegenseitig in die Quere. Als Protagonist der eigenen Liebestragödie kämpft die Figur Kornblum gegen die Krankheit, die er erst in all ihren Dimensionen begreift, als ihn seine Geliebte aus einem Sexclub anruft. Als Erzähler wird er aber auch zur Co-Stimme einer auktorialen Instanz, die dem herb-wilden Charme der Heldin mit ihrer psychologischen Rationalität gegen Ende sein Feuer nimmt. Jede Verhaltensweise wird erklärt, ihre Exzesse werden wie selbstverständlich zur Kenntnis genommen und das Finale gerät gar zu Analyse und Aufarbeitungsversuch eines sexuellen Missbrauchs im Kindesalter.

Dennoch: Kornblum ist ein erstaunliches, selten kraftvolles und in einer vor Spielereien und Ideen geradezu übersprudelnden Sprache erzähltes Debüt. Phasenweise geradezu rauschhaft, manchmal auch anrührend, wird der Erzählsound über die gesamten 500 Seiten durchgehalten und macht im Changieren zwischen höchster Euphorie und tiefster Verzweiflung die absolute Ausweglosigkeit dieser Liebe bewusst. Ähnlich dem mythischen Orpheus glaubt Kornblum, Terri allein mithilfe seiner Liebe aus ihrer ganz persönlichen Hölle retten zu können – blick nicht zurück, geh nur nach vorn. Doch am Ende ist er es, der Rettung gebraucht hätte.

Sten Reen: Kornblum, Matthes & Seitz Berlin 2010, 512 Seiten, 24,90 Euro

6 Kommentare zu „Orpheus in der Unterwelt. <br>Sten Reen: <em>Kornblum</em> – sprachmächtig und verstörend“

  1. Dieses Debüt ist leider keines,es stammt von einem Autor,dessen wirklicher Name sich leicht aus seinem Pseudonym erschließt. Warum nur hat das bisher kein einziger Kritiker bemerkt?

  2. Meine Suche nach Sten Reens wahrer Identität blieb bisher erfolglos. Was spricht denn konkret dafür, dass es Sven Regener ist? Neugierige Grüße!

    1. Verehrte Neugierige,bisher konnte ich mir keinen Reim darauf machen,warum ein seriöser Verlag-wenn meine Vermutung stimmt- ein so tolles Buch derart merkwürdig vermarktet.Der Inhalt eines Artikels von Nicola Richter im Tagesspiegel vor einigen Tagen könnte eine Erklärung dafür bieten:der Verlag befürchtete,daß Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt sein könnten und der Roman deshalb eingestampft werden müsste.Das Pseudonym iist insoweit eine elegante Lösung.
      Alles Vermutungen ,zugegeben. Als Fakten kann ich nur angeben:der Lebenslauf von Sten Reen auf dem Cover von „Kornblum“ ist weitgehend identisch mit dem von Sven Regener. Außerdem habe ich im Roman zwei Stellen gefunden,die Plagiate wären, wenn sie nicht vom selben Autor stammten . Ich müsste den Roman allerdings nochmal lesen ,um sie wiederzufinden. Bei einer gehts um ein Lieblingsgericht,das auch in den anderen Romanen von Regener vorkommt.Grüße

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