Sommerlektüre im Yukon? Warum nicht?


Beim Bachmann-Wettbewerb erhielt Lisa Kränzler, bildende Künstlerin aus Freiburg, den mit 7.500 Euro dotierten 3Sat-Preis für ihren Text “Willste abhauen”. In ihrem Debütroman Export A, im Verbrecher Verlag erschienen, erzählt sie von einem verschneiten Aufenthalt, dessen Geschichte die Erzählerin zehn Jahre später durch eine Flashback-Montage zu verarbeiten versucht. Was ist Elisabeth Kerz, 16-jährige Austauschschülerin im Yukon-Territorium, passiert?

Schon im Oktober ist es minus 20 Grad in Whitehorse, Kanada. Elisabeth Kerz empfindet dies als nüchterner Fakt. Denn sie muss ein Jahr hier bleiben, in der Nähe von Schwester und Schwager wohnen, zur Schule gehen, Englisch sprechen. Während sie ihre Geschichte erzählt, balanciert sie Sachlichkeit mit metaphorischen Details und Beobachtungen, deren Treffsicherheit den Kreis zurück zur Sachlichkeit fast schließt. Hier funktioniert die Sprache als Anker für eine Figur, die sich während der Geschichte andauernd hin- und hergerissen fühlt. Zwischen strenger Religion, zunehmender Sucht und der Schuld, die ihr Schreiben anzutreiben scheint, greift Lisa nach Sprache wie einen Kletterer das Seil, das aus der Höhle führt. Sie beschreibt immer wieder die genauen Dimensionen eines Gegenstandes oder einer Person und versucht, Fuß zu fassen während jenes Erlebnisses, das schon am Anfang ihre schwächsten Stellen ausgräbt, fängt und in der Faust hält.

Als Erstes ist die Religion dran. Jeden Sonntag fährt Lisa mit ihrer Schwester und ihrem Schwager, die namenlos bleiben, in die Fir Street. Dort steht ein Trailer, der auch die Kirche ist. Hier hält Pastor Leroy seine Predigten, die vor allem die unvorstellbare Furchtbarkeit der Hölle hervorheben. Lisa erzählt, wie sie als Kind alles bekam, was sie brauchte und begehrte. Die Schuld, die sie für diese Lebenserleichterung bzw. diesen sündhaft einfachen Wohlstand empfindet, war in ihrer Vergangenheit Grund dafür, Verzicht zu üben. Kein Essen für die Prinzessin.

Nun wirken die Predigten von Pastor Leroy bedrohlich. Predigtauszüge und Punk-Rock-Songtexte (die etwas zu großzügig zitiert werden) werden sich gegenübergestellt, um darauf hinzudeuten, was Lisa gleich erlebt: Sie zieht in die sechs-Kilometer-lange Centennial Street, wo sie als New Girl in eine Haus-WG einzieht. Das ist Gomorra, der Ort, wo Lisa ein kleines Zimmerchen inmitten von Müllhaufen, ranzigen Sofas und leeren Küchenschränken mietet. Und Drogen: Diese WG ist Stammlokal, immer sind Gäste da, alle rauchen Bongs und trinken Whiskey aus der Flasche. Lisa macht mit, isst immer weniger, geht immer seltener in die Schule, wird als “sexy” empfunden. Ihre Standardantwort auf die Frage, warum sie ihr Austauschjahr so gestaltet, lautet: Warum nicht?

Lisas neue Freiheit existiert aber mit einem Preis. Bei einer Party wird sie vergewaltigt, kurz danach wird die WG exmittiert. Ihre Familie ist besorgt und sie muss mit einem älteren Paar aus der Kirche, Mona und Humphrey, einziehen. Doch Lisa ist immer noch apathisch, uninteressiert schüttelt sie Rum in ihr Glas Milch und versucht, ihre Gefühle wegzustossen. In einem großen Crescendo begeht sie eine Tat, die ihre Selbstschuldkomplexe auf ein höheres Niveau bringt.

Das Thema Freiheit taucht immer wieder in diesem Roman auf. Ob es die tausenden tanzenden Sterne im Yukon-Himmel sind, die Lisa, heimliche Zigarette in der kalten Hand, anstarrt, oder das omnipräsente grüne Licht, das an eine Ampel erinnert, die Wahl, etwas zu tun oder nicht zu tun, steht immer im Hintergrund der Geschichte. Kränzler schafft es, einen präzisen Blick in die Denkprozesse eines Mädchens zu werfen, dessen eigene Unsicherheit durch das Schwanken zwischen Extremen vergrößert ist. Ihre Protagonistin ist selbst eine Exportware, die in einem fremden Land ankommt und verbrauchsbereit zur Verfügung steht, bis sie sich schließlich als mangelhaftes Exemplar erweist und zurückgeschickt wird.

Durch Kränzlers feine Sprache glaubt der Leser, in Lisas Kopf als stiller Beobachter zu gelangen. Man könnte Lisa manchmal kräftig schütteln, manchmal spürt man aber selber, was Menschen zu solchen selbstzerstörerischen Aktionen treibt. Dieser Roman ist ein beeindruckendes Debüt von einer bildenden Künstlerin, die sich gleich auch als Autorin bezeichnen kann. Die Bilder, die durch Kränzlers Sprache in den Kopf springen, sind sowieso schon hohe Kunst.

 

Lisa Kränzler:

Export A

Verbrecher Verlag, Berlin 2012

272 Seiten, 21,– Euro

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