Sonne Mond Zinn

Gustav Zinn fährt auf eine Beerdigung. Es ist die Beerdigung seines Großvaters Anton Hamann, ein ihm unbekannter Mann, der Vater seiner Mutter Edith, der unehelichen ersten Tochter. Gustav betritt die Bühne einer ihm völlig fremden Familie, seiner Verwandten und wird zum Beobachter und Erzähler in diesem Konstrukt. Alexandra Riedels Debüt Sonne Mond Zinn wirkt wie ein Kammerspiel, ein poetisches Nachdenken über die Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten in einer Familie.

Sonne Mond Zinn. Foto: Karolin Kolbe

„Keine große Angelegenheit, so ein Generationenwechsel“, denkt Gustav Zinn, als er die Schrift auf dem Auto des Bestattungsunternehmens sieht. Eine 3 klebt darauf, für die dritte Generation, wie leicht wäre es, die 3 abzuknibbeln und eine 4 darauf zu kleben.

Dinge passieren. Menschen auch, sagtest du immer, wenn du von deinem Vater sprachst. Irgendwann machte ich mir deine Aussage zu eigen, denn schließlich war auch ich passiert. Alles vererbt, füge ich manchmal noch knapp hinzu, aber es kostet mich immer Mühe, bei all dem zu lächeln. Und doch ist es so: Väter spielten bisher keine Rolle in unserem Leben, weder in deinem noch in meinem. Das war immer unser kleinster gemeinsamer Nenner, deiner und meiner.

Und obwohl Ediths Vater, Gustavs Großvater bisher keine Rolle spielte – außer in den Gedanken der kindlichen Edith, die sich ihren Vater als Charlie Chaplin vorstellte -, wagt Gustav den Schritt in die fremde Familie Hamann. Isolde Hamann, die Witwe, hat ihn angerufen, mit geölter Stimme, hat ihn eingeladen auf die Beerdigung.

Edith als Leerstelle

Die Geschichte erzählt Gustav, er richtet die Worte an seine Mutter, sie ist das Du, sie ist das Gegenüber dieses Textes, obwohl sie selbst nicht präsent ist. Bei der Beerdigung, der Begegnung mit seinen Verwandten, bei dem Versuch seines Onkels Ulrich, ihn einzunehmen oder der Kälte der Witwe Isolde, immer ist Edith in Gustavs Gedanken dabei, eine sichtbare Leerstelle in der Konstellation. Bisher war sie unsichtbar, das uneheliche Kind von Anton Hamann, das dann auch noch älter ist als die beiden ehelichen Söhne, ist auch auf der Beerdigung unsichtbar. Auf der Feier ist lediglich von diesen zwei Söhnen des Verstorbenen die Rede. Ediths Existenz als uneheliches Kind in den 1940er und 1950er Jahren ist eine einzige Provokation. Geprägt davon auch ihre Kindheit, von Spott, von fehlender Akzeptanz, von Vorurteilen, dort hinein gibt der Sohn Einblick. Während Edith also eine Leerstelle bleibt, wird der Rest der Familie Hamann plötzlich zu greifbaren Figuren eines Kammerspiels, auch wenn die Geschichte an zwei Orten, auf dem Friedhof und später beim Essen im Haus der Hamanns, spielt. Je weiter das Buch fortschreitet, desto stärker wird der Text vom Lyrischen, Bildhaften dominiert, Ediths Geschichte wird verwoben mit der Astronomie, einer der Leidenschaften des Verstorbenen. Und während manches immer entrückter, immer traumhafter scheint, treten auch Zweifel an Gustav als Erzähler auf. Welche der Details sind glaubhaft, welche Provokation findet wirklich statt und wird zum Essen tatsächlich ein grinsendes Ferkel mit Apfel im Mund serviert?

Wenige Pinselstriche

In wenigen Pinselstrichen schafft Alexandra Riedel es, plastische Figuren zu erschaffen, die Männer Pluck und Klaas, die noch über den Tod Anton Hamanns hinaus darüber streiten, wer von ihnen der nähere Freund war und die dennoch ausschließlich zusammen auftreten. Und auch Edith rast man als Leser*in dann doch irgendwann entgegen, in rauschhaften und zweifelhaften Erinnerungen, ihr Leben oder ihr Leben, wie es gewesen sein könnte. Liebte sie als Kind wirklich das Kino und hat aus Versehen die Szene in Die Sünderin gesehen, bei der Hildegard Knefs nackte Brust der Schauspielerin für eine Zeit die Karriere zerstörte? Alexandra Riedel bietet Möglichkeiten für das Füllen der Leerstellen an und plötzlich steht Edith doch mehrdimensional mitten in der Familiengeschichte. Dieses Debüt verwebt in poetischer Sprache und wahnsinnig dicht die Ereignisse einer Familie ineinader, lenkt die Leser*in auf das Thema der Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten in Familien. Die Autorin schafft es, all das in ihrem ellipsenhaften Stil auf 107 Seiten unterzubringen, ohne sich zu hetzen und verweist dabei noch ganz nebenbei auf die Endlichkeit und Unendlichkeit des zyklischen Lebens und seine Rituale. Beeindruckend!

Erde zu Erde, Asche zu Asche und so weiter, dasselbe Ritual immer und immer wieder.

Alexandra Riedel: Sonne Mond Zinn, Verbrecherverlag 2020.
Karolin Kolbe
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