Tommy Wieringa: DIES SIND DIE NAMEN

Von „Büchern der Stunde“ ist in letzter Zeit immer dann die Rede, wenn es um Fluchtliteratur geht. Besonders scharf in die Kritik geraten Romane, die nicht wirklich von geflüchteten Autor*innen verfasst wurden und denen somit öfter die Authentizität abgesprochen wird. Der niederländische Autor Tommy Wieringa ist ein Beispiel dafür, dass man sich sehr wohl der Flucht als Sujet widmen kann, mit sorgfältiger Recherche, Wissen und Empathie. Was genau der Autor in DIES SIND DIE NAMEN erzählt, könnt ihr hier lesen.

 Tommy Wieringa: Dies sind die Namen

Herbst und Winter, das sind die zwei kalten Jahreszeiten, in denen die Flucht einer Gruppe Menschen durch die Wüste, nicht weit entfernt von den Karpaten, und das Schicksal eines Polizeichefs, in der fiktiven, osteuropäischen Stadt Michailopol, spielen. Bezeichnend gleich zu Anfang: Die sieben Menschen, denen die Kapitel der Flucht gewidmet sind, tragen keine Namen, nur ihr Schicksal. Einzig der Polizeichef besitzt einen religiös aufgeladenen Namen und wird zur Rahmenfigur des Romans: Pontus Beg. Im Verlauf der Lektüre wechseln sich die Kapitel zwischen seiner Perspektive und der der Gruppe ab. Jedes Kapitel verrät mehr über die eigentlichen Geschichten, die hinter den Namenlosen stehen. Diese tragen nur Attribute und Spitznamen, die sie sich selbst innerhalb der Gruppe zuteilten.

So begleitet man auf der Reise Menschen, die nur noch als „der Äthiopier“, „die Frau“, „der Wilderer“, „der Mann aus Aschgabad“, „der große Mann“, „Vitaly“ und als „der Junge“ betitelt werden. In diesen Zuschreibungen steckt etwas, das viel über die Gruppe aussagt. Sie gehen zwar zu Fuß gemeinsam durch die Wüste, doch das ändert nichts daran, dass jeder und jede für sich alleine läuft. Die gemeinsame Flucht stärkt sie nicht und schweißt auch niemanden zusammen. Mit jedem Schritt, den sie in Richtung Zukunft gehen, verlieren sie ein Stück ihrer Vergangenheit. Die Gegenwart ist kaum ertragbar.

Sie waren zu Menschen ohne Geschichte geworden, für sie zählte nur noch die unmittelbare Gegenwart.

Parallel dazu verläuft der Erzählstrang um Pontus Beg. Er lebt einsam und kränklich, mit Tinnitus und kaltem Fuß und seinem Job als Polizeichef, in dem er sich mit korrupten Angestellten herumschlagen muss, in Michailopol. Lediglich seine Hausfrau kann ihn ab und an aufmuntern, in dem sie ihm gelegentlich Zeit für Sex schenkt, aber nur einmal im Monat und wenn es eben gerade passt. Dennoch gewinnt Beg an Identität und Lebensinhalt, als er plötzlich einen interessanten Fund innerhalb seiner Erinnerungen macht. Ein altes jiddisches Liebeslied, das seine Mutter zu pfeifen pflegte, offenbart ihm seine jüdische Abstammung, derer er sich nicht bewusst war. Er beginnt zu recherchieren und trifft den letzten Rabbiner der Stadt, der ihn viel über das Judentum lehrt. Bei ihm findet er Zuflucht, kommt an.

Dem niederländischen Erfolgsautoren Tommy Wieringa gelingt es, unglaublich viele Facetten von Flucht und Religion miteinander zu verweben, aufeinander zu beziehen, und außerdem Intertextualität zu kreieren. Solche Stellen zeigen sich etwa, wenn Beg in einer Kopie des Buches „Hinter den Namen“ den Nachnamen seiner Mutter sucht. Als diese Suche offenbart, dass ihr Name „auch jüdisch“ sein könnte, geht Begs Recherche nach seiner Herkunft weiter. Während Beg also seine Geschichte entdeckt, geht wie schon beschrieben, die der Gruppe von Geflüchteten verloren. Den Titel also als solchen zu verstehen, der er ist, nämlich eine indirekte Aufforderung, sich mit den Geschichten, den Leben hinter den Namen auseinanderzusetzen, macht auch diese Stelle deutlich.

Tommy Wieringa: Dies sind die Namen
©Hanser Verlag

Ganz anders als Begs Suche nach einer besseren Zukunft verläuft die Suche der Geflüchteten nach dem Heiligen Land, das Beg scheinbar in seiner eigentlichen Religion gefunden hat. Sie sind abgemagert, ausgedorrt, kraftlos. Ein Schlepper (Tommy Wieringa gelingt hier ein aktueller Querverweis auf die schon immer dagewesene und immer noch nicht gelöste Schlepper-Problematik) hat sie irgendwo im Nirgendwo, genauer, in der Wüste, alleine gelassen. Wie ein paar hilflose, ausgesetzte Hunde ohne Trinken und Essen muss die Gruppe versuchen, sich durchzuschlagen, eine Stadt zu finden. Wie wilde Tiere gehen sie auch untereinander miteinander um. Jedes menschliche Vernunftempfinden wird ausgeschaltet, sie stehlen voneinander, streiten, äußern sich rassistisch, vergewaltigen die einzige Frau in ihrer Gruppe.

Sie trotteten hintereinander her, mit gesenktem Kopf und stumpfem, leerem Blick. Früher hatten sie noch sehnsüchtig zum Horizont geschaut, zum Land der Erwartungen dahinter, doch ihr Blick schweifte immer seltener in die Ferne, bis er schließlich nicht mehr weiter kam als bis zum Boden vor ihren Füßen.

Die Lektüre über die Flucht dieser Menschen gleicht einer Tragödie, zeigt eine Entmenschlichung, macht betroffen. Am Ende lässt die Gruppe zwei Menschen einfach so hinter sich: Den großen Mann, der zusammenbricht, keine Kraft mehr hat und achtlos zurückgelassen wird. Sein Tod scheint völlig unbedeutend. Und den Afrikaner, der auf mysteriöse Weise umkommt und sie dennoch auf dem Weg begleitet.

Zum Ende des Romans hin verweben sich dann die beiden Geschichten und Pontus Beg greift die verbliebenen fünf der Gruppe auf, die es schlussendlich doch noch in die Stadt geschafft haben. Durch Begs Verhör erfährt man einzelne Namen und steigt nochmals tiefer in die Geschichte ein. Dieser Text ist belastend und das im besten Sinne, Tommy Wieringas Sprache dabei so tragisch wie ruhig, so emotional wie abgeklärt. Ein zeitloser Fluchtroman, der in keine Schublade passt, aber auf jedem Nachttisch liegen sollte.

DIES SIND DIE NAMEN von Tommy Wieringa ist 2016 im Carl Hanser Verlag erschienen und wurde von Bettina Bach aus dem Niederländischen übersetzt.

Ann-Kathrin Canjé
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