Über Dämonen, Schwachsinn und Literatur – Die Autorenwerkstatt mit Rainald Goetz Teil I

Rainald Goetz unterrichtet im Sommersemester 2012 im Rahmen der Heiner-Müller-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin. Er leitet eine Literarische Werkstatt für Nachwuchsschriftsteller. Auch Litaffin-Autoren gehören zu seinen Studierenden. Eine Reportage inklusive Mitschnitt seiner Antrittsvorlesung.

Er trägt einen Anzug. Weinrote Krawatte und dunkelblauer Schal. Er dreht uns den Rücken zu und steht auf einem Stuhl. Rainald Goetz schreibt an die Tafel: „Leben und“. Dann steigt er vom Stuhl, tritt ein paar Schritte zurück und betrachtet sein bisheriges Werk aus der Ferne. Zwei-, dreimal wiederholt sich dieser Vorgang, erst dann scheint er zufrieden. An der Tafel steht jetzt:

 

Es ist der 10. Mai 2012. Rainald Goetz hält seine Antrittsvorlesung an der Freien Universität Berlin. Gekührt mit dem Berliner Literaturpreis 2012, ist er der diesjährige Heiner-Müller-Gastprofessor für deutschsprachige Poetik und leitet in diesem Sommersemester eine Autorenwerkstatt für Berliner Studierende.

Im Hörsaal 1B sitzen nicht nur Studenten. Die ersten drei Reihen sind mit Namensschildern beklebt, reserviert für wichtige Leute, Präsidenten und Journalisten. Wir – Markus, Antonia und ich – sitzen in der vierten Reihe. Nicht ganz so bedeutend wie die Köpfe vor uns, dennoch nicht unwichtig. Wir sind Goetz’ Studenten, die sogenannten „Nachwuchsschriftsteller“ der Autorenwerkstatt.  Am Samstag findet die erste Sitzung statt. Heute wird unser Dozent, Rainald Goetz, uns die erste Hausaufgabe stellen.

„Dass du hier bist, war ja klar. Alter Fan!“, sagt eine Frau mit Kurzhaarfrisur zu einem grauen Herrn älteren Semesters.
„Erstaunlich, wie viele Leute hier sind“, sagt Antonia rechts.
„Man sieht bei diesen Veranstaltungen immer die gleichen Gesichter.“, sagt Markus links. „Das da…“  – er zeigt unauffällig auf einen apfelessenden Mann am Rand, „…ist Steffen Popp.“
„Brigitte, ich hab dir keinen Platz freigehalten“, ruft die Kurzhaarfrisur vor mir.
„Schon okay, gibt ja noch welche“, antwortet Brigitte. Noch, denke ich.
„Gut, dass wir so früh hier waren“, sage ich zu Antonia. Sie grinst zufrieden, denn sie ist für unsere Überpünktlichkeit verantwortlich.
„Siehst du!“, triumphiert sie. „Gut, dass du so einen Streber neben dir sitzen hast.“

Die übliche Geräuschkulisse aus Stimmen und Zeitungsgeraschel hallt von den Wänden wider. Ab und an sehe ich, wie jemand – möglichst heimlich – ein Foto mit seinem Smartphone macht. Rainald Goetz sitzt in der ersten Reihe, neben Brillen- und Anzugträgern. Einer von ihnen steht auf.
„Hören Sie mich?“, fragt er ins Mikrofon.
„Neeeeeeein“, rufen 500 Stimmen zurück.
Die Technik funktioniert noch nicht.

Zuspätgekommene sitzen als Feueralarmhindernisse auf den Treppenstufen. Jetzt ist der Hörsaal wirklich voll. Nach der Veranstaltung gebe es draußen gekühltes Bier, sagt der Vorredner. Applaus. Jetzt ist Rainald Goetz dran.

Er hält eine kleine Digitalkamera in der Hand, als er nach vorne tritt. Bevor er etwas sagt, macht er zwei Fotos von seinen Zuhörern. Ich grinse, als er sich in meine Richtung dreht. Dann packe ich meine Kamera aus und schieße zurück. Komisches Gefühl. Ich fotografiere meine Dozenten sonst nie.

„Hallo Berlin!“, ruft Rainald Goetz und lässt seine Hände auf das Rednerpult krachen. „Hier spricht der 10. Mai 2012.“

Rainald Goetz Antrittsvorlesung by Insa Kohler

Goetz nimmt den Begriff „Vorlesung“ wörtlich. Er liest vor. Schnell, energisch, dennoch laut und deutlich. Ab und zu schaut er auf von dem Stapel Zettel vor ihm, aber nur ganz kurz. Sein Kopf bewegt sich dabei schnell und abrupt. Fast wie bei einer Taube. Er gestikuliert, hebt die Hände und lässt sie wieder auf das Rednerpult fallen.
„Telefon? Ein Anruf.“ Goetz unterbricht seinen Vortrag kurz, als es irgendwo klingelt.

„Schreiben heißt veröffentlichen. Zuerst vor sich selbst.“ Goetz rüttelt am Mikrofon. Wenn man veröffentlicht, sieht man die Worte vor sich. „Dauernd liest der Schreiber das Geschriebene. Was steht da? Was heißt das?“ Die Grunderfahrung des Schreibens ist dabei, dass das, was da steht, NICHT das heißt, was man sagen wollte. Der Text sagt, was er will.

Eine Tür quietscht jedes Mal leise, wenn weitere Leute in den Hörsaal geschlichen kommen. Für mich ist es das dritte Mal, dass ich Rainald Goetz live sehe. Das erste Mal war während der Preisverleihung im Roten Rathaus, das zweite Mal bei einer Vorbesprechung zum Seminar. Wenn ich ehrlich bin, begeistert er mich erst heute so richtig.

„Das richtige Schreiben geht ganz leicht… Wenn das Gefühl stimmt, stimmen auch die Worte. Schreiben ist atmen.“ Dafür, dass viele seiner Sätze sehr lang sind, fällt es mir erstaunlich leicht ihm zuzuhören. Immer wieder kritzle ich Worte und Sätze, die mir besonders gefallen, auf meinen Schreibblock.

„Man sollte sich von der absolut genialen Informationsmaschine Internet nicht dauernd wie von einem fürchterlichen Drachen aus zig Köpfen heraus anspucken lassen, mit irgendeiner Info“, ist einer dieser Sätze. „Man sollte es als das weise Orakel benutzen, das es ja auch ist. Fragen eingeben und die Antworten dann sichten und in Ruhe bedenken.“

Oft trifft Goetz den Nagel nicht nur auf den Kopf, er schlägt ihm auch ins Gesicht, wenn es sein muss. Dieser Mann sagt, was er denkt. So findet er beispielsweise, dass es AUCH Aufgabe einer Universität sein sollte, Gedankenresultate und Texte zu verhindern. „Interessant ist: Die meisten Texte sind Mist. In allererster Linie natürlich gerade die vor einem selbst entstehenden eigenen Texte. Fast immer Mist. Schlecht, schwach, unbrauchbar. Warum? Ich weiß es nicht.“

Seitdem ich im März die E-Mail geöffnet habe, in der stand, dass ich an dieser Literarischen Schreibwerkstatt für Nachwuchsschriftsteller teilnehmen darf, frage ich mich, wie sie ablaufen wird. Was hat Goetz an den nächsten vier Samstagen mit uns vor? Bzw. was werden wir mit ihm machen?

„Nachwuchsschriftsteller, das gibt es gar nicht“, sagt er während der Antrittsvorlesung. „Literarische Werkstatt, falsch!“, ruft er. „Literatur wird nicht in der Werkstatt gemacht, sondern im Kopf! Der Kopf ist keine Werkstatt. Die Literatur ist kein Handwerk! Diese Vorstellungen sind Blödsinn. Und führen ganz praktisch in der Realität an den verschiedenen Schreibschulen in die Irre. Alles, was Handwerk ist am Schreiben, ist komplett egal.“

In Literarischen Werkstätten beschäftigt man sich mit „nachgeordnetem Schwachsinn“ und „liest und diskutiert die ganze Zeit ganz schlechte Texte.“  Zu üben, was daran schlecht ist, „ist eine lebens- und geistzerstörende Neutronenbombe all derer, die sich daran beteiligen. Schlechte Texte soll man anschauen und weglegen, nicht diskutieren, nicht verbessern. Der schlechte Text ist nicht verbesserbar“, sagt er.

Ich denke an meine zehn Manuskriptseiten, die zu den Bewerbungsunterlagen für die Autorenwerkstatt gehörten und frage mich, ob Goetz sie schon weggeschmissen hat.

„Anstatt in die Schreibwerkstatt zu gehen, sollten Leute, die schreiben wollen, in die Redaktionen der Zeitungen gehen und dort den Redakteuren erklären, wofür sie sich interessieren und worüber sie gerne schreiben wollen“, findet er und vermutlich hat er Recht. Ich werde trotzdem in die Schreibwerkstatt gehen. Weil ich wissen will, was dort passiert. Weil ich neugierig bin und ein bisschen fasziniert von dem Autor, der da vor mir steht.

„Wie schult man seine Menschenkenntnis?“, fragt er und sagt dann: „Der essentielle Grundvorgang ist Mitleid. […] Am Beispiel schult das Lesen den Leser. Am Beispiel des anderen Menschen. Am Vorgang der Hineinversetzung… Mitgefühl ist die große, frohe Botschaft der Literatur.“

Lesen und Beobachten. Dazu passt auch die erste Hausaufgabe:

  1. Schreibe den Anfang eines Textes, drei, vier Sätze, nicht mehr als eine halbe Seite, der folgende Situation erzählt: Der Ich-Erzähler, selbst Schriftsteller, trifft in einem angesagten Kleiderladen in Berlin Mitte einen anderen Schriftsteller, dessen Portrait aus der Erzählung dieser Begegnung entwickelt wird. Das wäre noch ganz einfach, aber der entscheidene Punkt, der dazu kommt, ist der Formauftrag: Schreibe diese drei Sätze so, dass sie absolut frei sind, von jedem Oberton und Unterton, komplett subtextfrei. Schwierige Aufgabe.
  2. Einfacher. Mitbringen: zwei Texte, die aktuell in den letzten zwei Tagen ein Leseerlebnis gewesen sind, egal, woher sie kommen und wo sie als Text rezipiert wurden… Herausgefunden werden soll, welchen Welterfassungsertrag der speziell vorgelesene Text liefert.

Goetz schließt den Vortrag mit dem Motto der Vorlesung. Es lautet: „Immer neu loslegen wie neu.“  Es sind seine Selbstanfeuerungsbeschwörungen. Schönes Wort.

Anschließende Diskussion by Insa Kohler

Rainald Goetz beantwortet Fragen: Was er seinen Studenten beibringen werde, da er ja glaubt, man könne das Schreiben nicht lernen; was er von der Literaturwissenschaft halte und warum er nicht bei facebook sei.

Nach der Antrittsvorlesung bin ich wirklich begeistert von Rainald Goetz. Ich freue mich auf das Seminar. Auch wenn ich denke, ein subtextfreier Satz ist wie das Monster von Loch Ness: schwer zu finden und eventuell nicht existierend.

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