Vor Frust „außer sich“ vor Freude

„Huch, die kenne ich doch?“ Aus der Seminarbeschreibung ging hervor, dass wir uns in diesem Kurs meines Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft mit einem Debütroman des Suhrkamp Verlags beschäftigen würden – und zwar Monate vor dessen Erscheinen. Deshalb entfuhr mir ein leiser Ausdruck des Erstaunens, als der Hardcover-Einband von Außer sich mit dumpfem Geräusch vor mir auf dem Tisch landete. Sasha Marianna Salzmann steht in kleinen Lettern auf dem Umschlag. Der Name war mir doch allzu geläufig – allerdings aus keinem Bücherregal, sondern von meinen Streifzügen durch die Berliner Theaterlandschaft. Die Hausautorin des Maxim Gorki Theaters und ehemalige Leiterin der dortigen experimentellen Bühne Studio Я hatte sich also an einen Roman gewagt.

Sasha Marianna Salzmann: Außer sich
© Jonas Fischer

Des einen Freud, des anderen Leid

Obwohl Salzmanns Stücke am Gorki nie zu meinen Lieblingen zählten, erfüllte mich die Entdeckung mit Vorfreude. Denn ich vermutete: In diesem Buch geht es nicht um seichte Themen wie etwa Liebeskummer und pseudo-philosophische Gedanken eines Millennial-Pärchens in Berlin. Und ich sollte Recht behalten.

Worum geht’s also stattdessen? Die Vielfalt an schweren Themen, denen sich Salzmann in Außer sich widmet, ist geradezu überwältigend – im positiven wie im negativen Sinne. Es geht um politisch und persönlich motivierte Flucht, familiäre und sexuelle Gewalt, Trans- und Homosexualität. Das Buch ist gleichzeitig melancholische Charakterstudie wie Familienepos. Es spielt mindestens in Russland, Deutschland und der Türkei – und genauso viele Sprachen kommen darin vor. Und es polarisiert. Weil dieser Vielfalt ein einzelner Rezensent gar nicht gerecht werden kann, habe ich mich in der Litaffin-Redaktion umgehört. Ann-Katrhin brennt für Außer sich:

Die sprachliche Wucht, die einem auf jeder Seite entgegentritt, die einen packt und mitnimmt in die verschiedenen, einzelnen Geschichten von Alis Verwandten und in ihre eigene. Vor allem fasziniert hat mich, welche Bilder sie findet, etwa für Szenen familiärer Gewalt, Liebesszenen etc.

Hier stoße ich gleich auf ein Charakteristikum, das mir im Gespräch mit anderen über den Roman noch öfter begegnen sollte: Des einen Freud ist des anderen Leid. Genau das, was ich am Buch so schätze, kritisieren andere – und andersrum. In die ersten drei Kapitel führt uns die oben erwähnte Ali. Als Kind erzählt sie von ihrer Flucht aus dem postsowjetischen Russland nach Deutschland. Eindrücklich beschreibt Salzmann aus Alis Sicht den Morgen des hektischen Packens, die lange und riskante Zugfahrt zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Anton, den beiden Eltern und Großeltern und vor allem, wie wenig sie damals von dem verstand, was eigentlich vor sich ging.

Ich weiß nicht, wohin es geht, alle anderen wissen es, ich nicht. (…) Papas Hände glänzen schweißig, sie sehen aus wie ungewaschene Teller, sie sind groß, wie sie an meinem Kopf  vorbeibaumeln. Würde mein Kopf dazwischen kommen, klatsch, und platt ist er. Mein Bruder wächst aus seiner Tasche wie ein Halm, steht mit beiden Beinen drin und legt Sachen raus …

Als Leser bin ich über den naiven Blick der Vierjährigen nicht erhaben. Metaphern und verträumte Vergleiche verklären die Sprache. Den verwirrenden Taumel, den die kleine Ali erlebt, kann ich am eigenen Leib spüren. Doch circa 20 Jahre später steht es nicht besser um Ali. Die Ali der (vermeintlichen) Gegenwart befindet sich in Istanbul, um nach ihrem verschwundenen Bruder zu suchen. Sie kommt dort beim Onkel ihres Berliner Mitbewohners unter, aufgewachsen ist sie im deutschen Kleinod. Eine leere Postkarte aus der Stadt der zwei Kontinente, die bei ihrer Mutter eintraf, hält sie für einen Hinweis über Antons Verbleib.

Auch hier schlägt Salzmann wieder mit Metaphern um sich. Bei der Ankunft am Atatürk-Flughafen sieht Ali ihre Schnürsenkel über den Boden kriechen und schmeckt Hähnchen in ihrer Kehle. Die ausgeschmückte Sprache, die auf Ann-Kathrin so gewaltig wirkt, bringt mich ins Stocken und dämpft in den ersten Kapiteln meine Vorfreude aufs Buch ab. Erst langsam reichert Salzmann den Roman mit brisantem Inhalt an, sodass ich die sprachliche Form als Unterstreichung dessen, was passiert, begreifen kann.

Im Spiegel Alis

Langsam entpuppt sich Ali als Figur, die nicht nur vom Weltschmerz gelähmt in einer viel zu großen Wohnung in Istanbul vegetiert und ihr Leben der Suche nach ihrem Bruder gewidmet hat, für welche sie aber nur wenig tut. So lerne ich Kapitel für Kapitel, dass Ali in ihrer Kindheit nicht nur eine Flucht in ein fremdes Land ertragen musste und von den einen als Russin, von den anderen als Jüdin beschimpft wurde, sondern auch unter den Gewaltausbrüchen ihres Vaters litt, der nie im Leben tun konnte, wofür er Leidenschaft hatte, sondern den Zwängen der Familie und Gesellschaft folgte.

Ali war ihren Eltern wieder dazwischengesprungen, und Kostja hatte sie mit einer Hand an die Wand geklatscht wie eine Fliege. Alis Glieder hingen schlaff, ihre Augen weiß, Anton holte aus und schlug seinen Vater, so fest er konnte, ins Gesicht. Kostja ließ Ali los, sie kauerte sich auf dem Boden zusammen, Valja warf sich über sie, und alle froren ein, für Tage.

Jahre später war Ali die Letzte, die ihr Vater vor seinem Selbstmord anrief, trotzig und vereinsamt seine Tochter für seinen Suizid verantwortlich machend.

Zu ihrem Bruder Anton schien Ali bereits als Kind eine erotische Beziehung aufzubauen, die schließlich beim Trauern um den Vater durch einen Ausbruch unterdrückter Gefühle im Sex gipfelte. Dieses verstörende Ereignis scheint mit Antons Verschwinden zusammenzuhängen, was uns Erzählerin Ali aber erst spät verrät. Wie zuverlässig die Informationen sind, die uns Ali gibt – vor allem diejenigen über sich selbst – zweifele ich mehr und mehr an. Immer wenn sie in den Spiegel blickt, sieht sie statt sich selbst, ihren unauffindbaren Zwillingsbruder – sieht ihn in sich? Und tatsächlich beginnt sie schließlich, sich Testosteron zu spritzen und bittet andere, sie Anton zu nennen. Viele Kapitel lang frage ich mich: Hat es Anton je gegeben? Oder war er stets ein Teil von Ali, eine Abspaltung ihrer Persönlichkeit, die sie nie sein durfte und zu der sie sich endlich bekennt?

Immer wenn ich merke, dass es für Menschen eine Vorstellung von Welt gibt, auf die sie ohne Zweifel bauen, fühle ich mich allein. Ausgeliefert. Sie sprechen davon, Dinge mit Sicherheit zu wissen, sie erzählen, wie etwas gewesen ist oder sogar wie etwas sein wird, und ich merke dann immer, wie sehr ich nichts weiß von dem, was als Nächstes passieren könnte. Ich weiß ja noch nicht mal, als was ich angesprochen werde, wenn ich Zigaretten kaufen gehe – als ein er oder als eine sie? – Ali über sich selbst.

Die Buddenbrooks der Sowjetunion

Sasha Marianna Salzmann: Außer sich | Stammbaum von Alis Familie
Sasha Marianna Salzmann konzentriert sich im Roman vor allem auf die Familie von Ali(ssa)s Mutter Valja. | © Jonas Fischer

Ali ist aber nicht die einzige Protagonistin im Roman. Geschickt springt Salzmann erzählerisch von Figur zu Figur. Manchmal merkt man kaum, dass man gerade die Geschehnisse der Vergangenheit etwa nicht mehr aus der Sicht von Alis Vater Kostja, sondern dessen Mutter sieht. Es eröffnet sich eine ganze Ahnengalerie. Wir sehen die Welt mit den Augen von Alis Eltern, ihrer Großeltern, Urgroßeltern, sogar Ururgroßeltern. Die Zeitsprünge zwischen und innerhalb der Kapitel passieren dabei so subtil, dass man sich oft erst nach einer Seite der Lektüre wieder zurechtfinden und einordnen kann, wo auf dem Zeitstrahl die Geschichte weiterbalanciert. In Verbindung mit einer Vielfalt an Namen und Spitznamen qualifiziert das Außer sich nicht unbedingt zur Gute-Nacht-Lektüre. Ein Mitglied unserer Redaktion hat den Roman nicht zu Ende gelesen:

Mir fehlte ganz klar der Fokus. Salzmanns Roman sprudelt vor Themen, gesellschaftsrelevanten Themen, stellt Fragen, die angesprochen und diskutiert werden sollten, leider verpuffen sie jedoch unter Berücksichtigung der Länge des Buches in ihrer Vielfalt. Für die Darstellung mehrerer Generationen von der Sowjetunion im 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hätte es dem Roman gut getan, den unterschiedlichsten Geschichten mehr Raum zu geben. Unter der schieren Überfülle an Themen und Zusammenhängen quälte ich mich eher durch die Lektüre, halte aber der Autorin zugute, dass sie sich wichtigen aber auch unbequemen Stoffen widmet.

Beim Hangeln durch die Generationen wird eines deutlich: Wie beim großen Jahrhundertroman Thomas Manns handelt es sich nicht um den Verfall einer Familie, sondern es geschieht eher eine emotionale Sensibilisierung. Während für Alis Urgroßeltern Wohlstand und wirtschaftliches Vorankommen im Vordergrund stehen, leiden Alis Mutter und Vater darunter, ihren wahren Lieben und Leidenschaften nicht nachgehen zu können. Heimliche Heldin ist für mich Alis Mutter Valja. Sie tritt von Romanbeginn an auf und erhält schließlich auch ihr eigenes Kapitel, in dem sie ihrer Tochter all ihre Lebensentscheidungen erklären kann. Jede Handlung Valjas ist motiviert und hat ein klares Ziel – vom Medizinstudium über die Flucht bis hin zur Scheidung von ihrem Mann. Ali hingegen handelt oft irrational und selbstzerstörerisch, weil sie es nicht schafft, mit klaren Zielen ihren Traumata zu entkommen.

Zur Romanautorin geboren

Auch Juliane hat gemischte Gefühle für Außer sich:

Obwohl ‚Außer sich‘ für mich ein wahrer Pageturner war, bin ich am Ende meiner Lektüre zwiegespalten. Dieser Roman ist wirklich eine Wucht, von der ich mich allerdings auch ein wenig erschlagen fühlte. Für mich waren es einfach zu viele Themen, die Salzmann verarbeitet hat. Eine Konzentration auf zwei, drei Themen und eine genauere und tiefere Ausarbeitung wäre mir persönlich lieber gewesen.

Ich kann all die Stimmen verstehen, die sagen, zu viele Themen würden nicht zu Ende erzählt. Für mich persönlich macht aber genau das den Reiz von Außer sich aus. Wie oft bin ich schon beim Lesen verträumt dem Text entglitten, wenn etwas zu lange und ausführlich erklärt wurde? Außer sich las ich stundenlang hochkonzentriert, gefühlt ohne zu blinzeln. Immer wieder bringt Salzmann ein neues Ereignis ein, das mich fesselt und zum Nachdenken anregt. In Teilen wurde ich an Salzmanns Theaterstücke erinnert – zum Beispiel Schwimmen lernen – und hatte das Gefühl, erst jetzt im Roman zu verstehen, was die knappen Theaterdialoge bedeuten sollten. Salzmann schafft es eindrücklich im Prosatext ein Gefühl für die Dinge mitzugeben; ich konnte mich in Situationen hineinversetzen, die ich mir selbst nicht im Ansatz auszumalen vermochte.

Salzmann scheint versucht zu haben, alle Themen, die sie bewegen, in einen Roman zu packen. Es sind viele, sie sind aber nicht wahllos. Sie schafft es, ein Spektrum genau der Themen aufzufächern, die heute in unserer Gesellschaft noch ungelöste Fragen sind – und hat es damit als einziges Debut auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2017 geschafft. Ich habe das Gefühl, man hat durch die Kapitel des Romans kleine Denkanstöße bekommen, anstelle einer Auflösung. Aber genau darum geht es: um’s selber denken. Eine Romanfortsetzung von Außer sich würde ich verschlingen.

Außer sich / Suhrkamp Verlag / 22 Euro Hardcover / 366 Seiten / Erscheinungsdatum: 11.09.2017

Wir verlosen fünf Exemplare von Außer sich. Um an der Verlosung teilzunehmen, müsst ihr nur folgende Frage in den Kommentaren hier im Blog oder auf Facebook beantworten:

Frust vs. Freude – bei welchem Buch hattet ihr zuletzt das Gefühl, dass es so richtig polarisiert?

Viel Erfolg!

Jonas Fischer
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5 Kommentare zu „Vor Frust „außer sich“ vor Freude“

  1. Das letzte Buch, das meinen Freundeskreis richtig spalten konnte, war „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Wir haben stundenlang über die ausführlichen Dialoge diskutiert, die präzisen Beschreibungen, die langsame und irgendwie niemals auftauchende Handlung. Weil wir alle nicht so recht wussten, ob da ein Meisterwerk vor uns liegt oder das langatmigste Buch aller Zeiten, haben wir uns das Original bestellt und teilweise ganze Passagen miteinander verglichen. Wir sind dann im Endeffekt zu dem Schluss gekommen, dass die deutsche Übersetzung dem Original nicht gerecht wird… bzw. ich denke das haha.

  2. Ich selbst war hin- und hergerissen beim Lesen von „Der Russe ist einer der Birken liebt“ von Olga Grjasnowa. Weil ich die Protagonistin anstrengend, zuweilen sogar unsympathisch fand und dies gleichzeitig aber gezeigt hat, wie gut der Schriftstellerin die Darstellung dieser gelungen ist: Ich konnte sie mir sie so genau vorstellen, dass sie mir sogar ab und zu auf die Nerven ging.

    1. Gewonneeeen! Liebe*r Fried, danke für deinen Kommentar. Gerne schicken wir dir ein Exemplar von Sasha Marianna Salzmanns „AUSSER SICH“ zu und sind schon gespannt, ob du es ähnlich kontrovers findest. Bitte schicke uns deinen Namen und deine Adresse an redaktion@litaffin.de.

      Liebe Grüße
      Jonas

  3. Ich habe im Urlaub „Noch so eine Tatsache über die Welt“ von Brooke Davis gelesen. Ein Buch, bei dem man oft laut auflachen muss weil es so urkomisch und absurd ist, was aber leider recht oberflächlich bleibt, obwohl die Thematik ziemlich finster und emotional ist. Zwar schön, dass solche Themen humoristisch behandelt werden aber doch schade, wenn so ein Buch einen irgendwie ratlos und unbefriedigt zurück lässt.

  4. Ich habe vor kurzem „Und es schmilzt“ von Lize Spit gelesen.
    Dazu hatte ich im Vorfeld (im Internet) schon von vielen Seiten viel positives gelesen,
    gleichzeitig aber auch die kritische Frage, was man sich als Leser „zumuten“ möchte.
    Ich fand die Lektüre tatsächlich auch sehr intensiv, die Ich-Erzählerin hat mich wahnsinnig gepackt und ich fand den Spannungsbogen total gelungen. Gegen Ende konnte ich
    manche Teile nur querlesen, weil ich die Auflösung der Geschichte nicht ertragen konnte.
    Ein heftiges Buch, welches mit Sicherheit polarisiert.
    LG

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