Wir Wunderkinder vom Prenzlauer Berg

Die Kritik ist ganz aus dem Häuschen. Helene Hegemann – Jahrgang 1992 (!!!) – hat ein Buch geschrieben. Axolotl Roadkill heißt das gute Stück und es geht darin um,  nunja, Sex, Drogen, Gewalt und Exzesse der wohlstandsverwahrlosten Nullerjahre-Generation vom Prenzlberg. Das ganze in einem ebenso kunstvollen wie schrillen Sound aus „Fuckyouall“-Jargon und nicht minder gewagten gesellschaftstheoretischen Debatten-Partikeln. Daran „werden sich dieses Jahr wohl alle deutschsprachigen Romandebüts messen lassen müssen“ kriegen sich die Reszensenten vor lauter Aufregung gar nicht mehr ein. So weit, so gut. Nun ist es so, dass Helene Hegemann keine gänzlich Unbekannte ist. Der „gestörte Teenager“, wie sie sich selbst bezeichnet, schrieb mit 15 ihr erstes Theaterstücke, ihr mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnetes Drehbuch- und Regiedebüt Torpedo hatte  2008 Premiere. Die Spatzen pfeifen es also von den Dächern des Literaturbetriebs, nein, vielmehr dröhnt es schon unüberhörbar durch die Straßen: die deutsche Literatur ist um ein Wunderkind reicher. Tatsächlich lässt sich Axolotl Roadkill problemlos in eine literarische Ahnenreihe mit Salingers Der Fänger im Roggen, Benjamin Leberts Crazy, Christian Krachts Faserland oder auch Thomas Klupps Paradiso stellen. Man fragt sich allerdings, ob man der Autorin einen Gefallen tut, indem man ihr schmissige Labels á la „Wunderkind der Digitalboheme“ und „Fräuleinwunder 2.0“ um den Hals hängt. Für die Vermarktung ist das der Jackpot, keine Frage, ein von Hegemann selbstgedrehter Buchtrailer auf youtube inklusive:

Hier mal kurz nach autobiograpahischen Parallelen gegraben, dort den Aufreger der Saison postuliert, und dann kann man wieder zum Tagesgeschäft des Literaturtbetriebs übergehen. Was dabei auf der Strecke bleibt, ist ernsthaft über die literische Qualität solcher Raketen-Phänomene am Literaturhimmel zu diskutieren. Im Falle von Helene Hegemann hat man es nämlich mit gar nicht so wenig Talent und nicht geringer erzählerischer Kraft zu tun. Und schließlich werden ja auch 17-Jährige mal erwachsen und – wer weiß? – aus Wunderkindern gestandene AutorInnen. Bleibt bloß zu hoffen, dass Hegemanns fulminante Debüt-Erfahrung nicht einem Drogenrausch gleicht, über den es in Axolotl Roadkill heißt:  „Ich weiß, es wird nie wieder etwas Geileres in meinem Leben geben als Heroin. Alles, was von nun an passiert, werde ich mit diesem morbiden großbürgerlichen Heroinflug vergleichen, der gerade am Start ist.“

25 Kommentare zu „Wir Wunderkinder vom Prenzlauer Berg“

  1. Sehr schöne Rezension!
    Habe heute morgen am Frühstückstisch die Kritik in der ZEIT gelesen (http://www.zeit.de/2010/04/L-B-Hegemann); fast eine Seite für eine Jungautorin, alle Achtung! Und das ist bei weitem noch nicht alles, denn es folgt ja noch ein Portrait in der nächsten Ausgabe. Dabei lächelt Fräulein Hegemann dem Leser so schüchtern entgegen. Das lädt natürlich ein, sich eine eigene Meinung zu bilden und das Buch zu lesen, kurz: die Marketingmaschinerie in ihrem Erfolg zu bestätigen und am Laufen zu halten. Nun, in diesem Fall ja gerne.

  2. Na bravo, eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, das Buch ganz bewusst NICHT zu lesen, da mir der ganze Hype schon wieder zu viel ist. Vor allem, als mir Fräulein Hegemann heute morgen auch noch aus dem Spiegel entgegen gelächelt hat.
    Da mir die Rezension aber gut gefallen hat, überlege ichs mir vielleicht nochmal. Wobei….Crazy fand ich damals auch nicht toll…

  3. Daß diese Rezension in den letzten Zeilen noch die Kurve kriegt, kann nicht über die nervtöttend gönnerhaft fabulierte Kardinalschlacksigkeit des „Was“ und „Womit“ hinwegtäuschen. In dem guten Stück geht es, nun ja, nicht um „Sex, Drogen, Gewalt und Exzesse der wohlstandsverwahrlosten Nullerjahre-Generation vom Prenzlberg“. Diese Gegenstände gibt es, sie sind wichtig im und für den Text, aber sie sind nicht das Thema. „Prenzlberg“. 2010. Man möchte der Rezensentin zurufen: Kommen Sie darüber hinweg.

  4. Finn Fiend, woran machst du diese „nervtöttend gönnerhaft fabulierte Kardinalschlacksigkeit“? denn fest?
    Ich persönlich lese Noras Beitrag eher als Reflexion über das immense Medienecho vom Wochenende, denn als Rezension. Letzlich wurde der Roman doch in den Feuilletons auf „Sex, Drogen, Gewalt und Exzesse“ runtergebrochen, weniger im obigen Beitrag.

  5. Franziska Schramm

    Sehr wahr, Nora: Aus Wunderkindern werden nach einigen Jahren oder Jahrzehnten gestandene AutorInnen. Und dann müssen sie damit klarkommen, dass auf ihrer Stirn immernoch das Label „Wunderkind“ klebt und immernoch müssen sie Fragen zu ihrem Debüt beantworten, obwohl sie sich längst weiterentwickelt haben.

    Benjamin Lebert sagt übrigens über den Beginn seiner Vermarktung im Literaturbetrieb: „Ich war schockiert, als ich zum ersten Mal auf der Frankfurter Buchmesse auftrat, schockiert von der Kälte in den Augen der meisten Menschen, die ich getroffen habe. Ich war ja erst fünfzehn, es war alles sehr aufregend, und sehr belastend.“ (http://www.benjamin-lebert.de/de/autor/interview) Hoffen wir, dass es Helene Hegemann besser ergeht.

  6. Gestern früh geleitete mich die Rolltreppe einer großen Buchhandelskette sanft in den ersten Stock und führte mich gradewegs zu den Neuerscheinungen. Das grelle Cover von „Axolotl Roadkill“ war das erste was ich an diesem Morgen bewusst wahrnahm. Frau Ostermeyers Worte über das Ausnahmetalent Hegemann ertönte wieder in meinen Ohren. Dann stieß ich auf deinen „Wunderkind-Artikel“, Nora. Als ich dann heute Morgen das Zeit-Magazin aufschlug, war es wohl beschlossene Sache: Um Fräulein Hegemann kommt man erstmal nicht vorbei. Letzte Woche feierte das Magazin bereits das Jungmodel Toni Garn aus München, diese Woche wird Platz für Helene Hegemann aus Berlin gemacht. Hier scheint sich ein Faszinosum für das Junge und Unverbrauchte oder was auch immer hinter der eigentlichen Sache steckt, zu entwickeln: „Helene Hagemann ist fast noch ein Kind -- mit ihrem ersten Roman soll sie der neue Star der Berliner Literaturszene werden“, heißt es im Artikel des Zeit-Magazins. Immer nur hört und liest man, wie viel Hegemann bereits erreicht hat und mit wie viel Talent sie doch gesegnet ist. Auch der Ullstein Verlag ist meiner Meinung nach bemüht, dieses Bild zu generieren. Klar, glauben sie an Hegemanns Talent -- der Artikel dokumentiert eindrucksvoll, die Überfürsorge und den Lobgesang auf Hegemann vom Verlag und von der Produzentin ihres neuen Drehbuches -, aber wohl auch daran, dass sich ein so junges Talent am Besten verkaufen lässt. Dass Helene Hegemann die 10. Klasse mit 260 Fehlstunden abgeschlossen hat, bei einem Fotoshooting für das Zeit-Magazin zweimal in Ohnmacht gefallen ist, sie bereits bei mehreren Therapeuten auf der Couch lag und sich für die Öffentlichkeit „Hegemann“ nennt -- der Name ihres Vaters, einem berühmten Dramaturgen für Musik und Theater -, obwohl sie eigentlich den Nachnamen ihrer verstorbenen Mutter trägt, passt da nicht so recht ins Bild. Hegemann selbst, scheint das egal zu sein. Ihr geht es um die Sache. Aber worum geht uns eigentlich?

  7. Wer gerne ein Exemplar des Buches hätte und nebenbei noch auf die Leipziger Buchmesse will, um dort jedoch nur einen Tag zu verbringen und am Abend wieder in Berlin sein will, sollte sich folgendes Angebot anschauen: http://www.zitty.de/kultur-live/52830/
    Ganz schön clever von Ullstein, denn da das Buch preisgebunden ist, wird dieser Betrag wohl draufgeschlagen. Das macht das Ticket zwar teurer, ist aber immernoch unschlagbar günstig, so dass es wieder viele kaufen werden.
    Ob das junge Fräulein Hegemann eine der Lesenden sein wird, ist nicht ersichtlich, wage ich aber zu bezweifeln. Man wird sie auf der Buchmesse brauchen und belagern. Die Arme.

  8. Endlich gibt es einen FU blog!
    Eure Rezensionen sind unkompliziert-erfrischend-informativ!
    Weiter so, ich bin FAN!

    Habe dank euch, Appettit auf Dorota Maslowska bekomen, nun werde ich nicht mehr satt!

    Zu der „kleinen“ Helene,kann mann ja fast nichts neues schreiben,alle medialen Kanäle überschäumen sich, vor Lobeshymnen, Hasstiraden,Kritiken,angserfüllenden Prophezeiungen,wundersamen Zukunftsvisionen.
    Ich fagte meine kleine Schwester (17 Jahre alt), ist das der Schrei, deiner Generation?
    Sie sagte: „ich denke es ist der Schrei einer jeden Generation, es ist so änlich wie damals, „wir Kinder vom Bahnhof Zoo“,irgendwie gleich, nur Anders!
    Wie recht sie hat!

  9. Es werden Plagiatsvorwürfe gegen „Axolotl-Roadkill“ laut! Hat Helene Hegemann vom SuKuLTuR-Roman STROBO abgeschrieben? Die Beispiele sind frappant: http://bit.ly/9RZq8e (RT @SuKuLTuR). Möchte nicht eine(r) von Euch an der dort geführten Diskussion teilnehmen (und auf unseren Blog verweisen :-))?

    1. Hm, Helene Hegemann soll also abgeschrieben haben -- interessanter Aspekt, der mir beim Lesen gar nicht so in den Sinn gekommen wäre -- zumal im Buch ganz offen und explizit auf Subtexte/andere Bücher/Blogs/Songs etc. verwiesen wird. Die Autorin gibt doch ganz offen preis, zu „klauen“. Sogar ein Copyrightvermerk (zu einer Passage aus David Foster Wallace’s „John Billy“) ist vorhanden. Insofern halte ich es für äußerst fragwürdig, gleich „Plagiat“ zu schreien -- ein paar ähnlich klingende Passagen oder Motive, sorry, das reicht einfach nicht. Man kann doch nicht mit jedem Werk das Rad neu erfinden. Außerdem ist man immer geprägt von der Lektüre, die man gelesen hat, den Songs, die man gehört, den Filmen, die man gesehen hat, der Kultur, in der man sozialisiert wurde. Gerade diesem Buch, das eindeutig in einer „neuen“ Sprache zu erzählen weiß, seinen Originalitätsanspruch abzusprechen, halte ich für daneben.

      Wenngleich ich natürlich zugeben muss: ein „Wunderkind“ und ein großer potenter (selbstverständlich ausschließlich profitgeiler) Publikumsverlag vs. unbekannter Autor und kleiner machtloser (selbstverständlich rein idealistischer) Verlag -- das ist der Stoff, aus dem sich wunderbare Polemiken spinnen lassen…

    2. Naja, für mich stehen zwei Dinge fest:
      -- Wenn ich David Foster Wallace als Quelle nenne, den „unbekannten“ Blogger hingegen nicht, dann handelt es sich um ein Plagiat. „Ähnlich klingend“ hin oder her… der Blogpost bei Gefühlskonserve spricht Bände.
      -- Aber: Es ist auch der perfekt konstruierte Medienrummel. Und was wir schon zu Beginn eindrucksvoll fanden, das immense Medienecho, wird sich in den kommenden Tagen in der Presse fortsetzen. Letztlich muss/hätte man als Ullstein-Verlag/Lektor erwarten können, dass das Ganze in der Blogosphäre aufgedeckt wird. Und ebenso weiß man, dass Helene Hegemann zu viel Talent hat und sehr jung ist, so dass ihr dieses Skandälchen nicht die weitere Karriere versauen wird (künstlerische Freiheit; Intertextualität, ja ohnehin das Stilmittel eines jeden modernen Autors).
      Ich find’s arm, sofern man das sagen darf, ohne das Buch gelesen zu haben ;-)

    3. Ein bisschen frech ist Helene Hegemann in ihrer Stellungsnahme ja schon. Wenn ihr Roman ständig als „Stellvertreterroman für die Nullerjahre“ rezipiert wird, solle bitteschön auch anerkannt werden, dass ihre Arbeitsweise der heutigen Zeit entspreche, in der eine „Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess durch das Recht zum Kopieren und zur Transformation“ geschehe. Der Copy-und-Paste-Spirit der Internet-Generation rechtfertigt jedoch nicht ein stillschweigendes Unterschlagen von Quellen.

      Interessant ist, dass Blogger Deef Pirmasens vor allem ein Versagen bei Ullstein sieht: http://tinyurl.com/ybnj6dx Hätte das Lektorat das Manuskript nicht gründlicher prüfen müssen, um zumindest juristisch auf sicherer Seite zu sein?

    4. Gut, nachdem ich die Stellungsnahme gelesen habe, gebe ich euch da völlig recht. Urheberrecht ist nun mal Urheberrecht, das gilt auch für Internet-Texte. Helene Hegemann ist ja nicht doof und auch sie hätte wissen müssen, dass Plagiate -- ob nun vorhanden oder nicht -- gerade in der Blogosphäre aufgedeckt werden. „Mir waren die juristische Tragweite nicht bewußt“ klingt da fast ein bisschen zu aufgesetzt naiv. Und ja, das Lektorat hätte sich da mehr absichern müssen, zumal im Buch wie gesagt ja ganz offensichtlich auf diverse andere Texte referenizialisiert wird…
      Trotzdem muss ich sagen, dass ich „alles nur geklaut“ als Vorwurf zu heftig finde, damit spricht man einem Werk doch völlig die Legitimität ab.

      Fest steht jedenfalls, dass der ganze Rummel das Buch noch mehr pushen wird, insofern werden die bei Ullstein so unglücklich darüber nicht sein…

    5. Also wenn das ganze eine geplante Medieninszenierung sein sollte, finde ich es noch unverschämter. Andererleute geistiges Eigentum stehlen, nur damit die Hegemann weiter die freche Prenzlgöre spielen darf? Und David Foster Wallace ist natürlich auch eine „coole“ Quelle, die nennt man gerne, macht was her, aber irgendeinem End-Zwanziger Blogger nicht nur Ideen, sondern passagenweise auch Formulierungen zu klauen, das passt weniger ins Bild. Auch gar nicht so zu der Erfahrungswelt einer siebzehn jährigen…
      Naja… ich will das Buch noch weniger lesen als vorher. Mich schreckt dieser Medienskandal einfach noch mehr ab.

  10. @Karolina: Willkommen und herzlichen Dank für das Kompliment!

    Der Vergleich von Hegemanns Werk mit „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ist interessant…damals auch ein Skandalroman, das schockiertes Kopfschütteln über die heranwachsende Generation auslöste. Wobei auffällig ist, dass es in der Berichterstattung oft weniger um das Werk geht, also das brisante Thema/den Drogenkonsum/das Bild einer Generation, als um Fräulein Hegemann. Es wird also wieder mal viel mehr Personenkult betrieben: passt ja auch sehr schön bei Hegemann, die plakativerweise nen Künstlervater hat, mit 13 ihre Mutter verlor, danach nach Berlin zog und seitdem ein ungewöhnliches Leben pflegt -- aufs ausführlichste beschrieben im Portrait des ZEIT-Magazins der letzten Woche, das fast schon lächerlich psychologisch daherkam.

    Vielleicht ist es heute auch schwerer noch zu schockieren bei Vorlagen wie „Feuchtgebiete“ und ähnlichem.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen