Im Gespräch mit Sieglinde Geisel (Teil II)

Sieglinde Geisel hat eine Leidenschaft: die Literaturkritik.  Sie hat das Online-Magazin tell gegründet, davon hat sie uns hier erzählt. Außerdem arbeitet sie schon lange als freie Kritikerin für verschiedene Medien. Sie hat uns verraten, wie sie dabei vorgeht und wonach sie in einem guten Text sucht. 

Sieglinde Geisel, Literaturkritikerin und Gründerin des Online-Magazins tell.

Was macht große Literatur aus?

Dass sie mich erschüttert, verwandelt, etwas mit mir macht. Wenn ein Buch mich beim Lesen bremst, merke ich, dass es etwas Besonderes ist. Aber das ist kein Ausschlusskriterium. Es gibt auch große Literatur, die mich nicht bremst. Manchmal merkt man, dass Sätze Hallraum und Kraft haben. Das sind intuitive Zeichen. Lukas Bärfuss unterscheidet zwischen Büchern, die wir lesen, um uns zu informieren und Literatur, bei der wir eine Erfahrung machen. Große Literatur lässt zu, dass ich als Leser antworte, etwas erlebe.

Wenn mich der Autor an die Hand nimmt, mich durch sein Wunderkabinett führt und mir erklärt, was er da für mich reingetan hat, erlebe ich nichts, es wird mir nur etwas erklärt. Das Lesen muss eine gemeinsame Entdeckungsreise sein. Virginia Woolf sagt, man spürt es in den Nerven. Wenn man das genauer fassen will, kommt man allerdings in trübe Gewässer. Aber man kann diese Ebene auch nicht ignorieren, nicht nur, weil das unehrlich wäre, sondern auch, weil es genau darum geht. Dem englischen Dichter E. A. Houseman verdanken wir den Vergleich mit einem Hund, der sofort weiß, wenn er eine Ratte vor sich hat, obwohl er es nicht definieren könnte. Ich komme sofort in Teufels Küche, wenn ich solche Dinge sagen, es wirkt unwissenschaftlich und klingt nach Pathos. Aber wenn wir uns nicht trauen, in Teufels Küche zu gehen, dann hat die ganze Literaturkritik keinen Sinn.

Was war das letzte Buch, das Sie begeistert hat?

Kürzlich habe ich mal wieder ein Buch des Mythologen Joseph Campbell in die Hand genommen und war erschlagen davon, wie großartig das ist. „The god you worship is the god you deserve.“ Das sagt alles über den Missbrauch von Religion. Man findet bei ihm viele Perlen. Zuletzt richtig erschüttert hat mich der Roman „Die Mittellosen“ des ungarischen Autors Szilárd Borbély, eine Kindheitsgeschichte aus dem Dreiländereck Rumänien, Ungarn, Ukraine, geschildert aus der Sicht des Kindes. Es wird einfach erzählt, wie es ist. Das hat mich angegriffen. Ein ganz großes Buch.

Was macht gute Kritik aus?

Gute Rezensionen sind wahrscheinlich selbst Literatur, aber sie werden anders gelesen. Ein Roman oder ein Gedicht ist ein Gegenüber, das löst in mir etwas aus, und dann versuche ich herauszufinden, was es in mir auslöst. Eine Rezension dagegen erschüttert mich nicht, sondern sie bringt mich zum Nachdenken. Sie greift mich nicht persönlich an. Eine gute Kritik ist genau wie kreatives Schreiben ein Zusammenspiel von Bewusstsein und Unbewusstsein. Das Unterbewusstsein hat viel mehr Denkpower als der bloße Verstand. Es ist immer da, man muss sich nur den Zugang dazu erlauben. Wir haben Angst vor unserem Unbewussten, doch man kann der Literatur nur gerecht werden, wenn man beim Lesen und danach in sich hereinhört.

Wie unterscheiden Sie, was Ihre persönliche Leseerfahrung ist und was darüber hinausgeht?

Das ist ein Prozess. Ich fange mit meiner eigenen Leseerfahrung an. Etwas anderes habe ich ja nicht, es gibt nur die Begegnung zwischen mir und dem Text. Man muss dem Text den Raum geben, erst einmal einfach da zu sein. Dafür braucht es Disziplin beim Lesen: Ich, mein Buch, mein Tee und sonst nichts. Und erst in einem zweiten Schritt – idealerweise erst, wenn ich alles gelesen habe – trete ich zurück und überlege: Mit was für einem Buch habe ich es zu tun? Mandelstam vergleicht die Literaturkritik mit der Botanik: Ist es ein Gänseblümchen, eine Orchidee oder eine Nutzpflanze?

Die Versuchung für Kritiker besteht darin, zu früh zu urteilen. Ich finde es spannend, wenn eine Kritik einen Einblick gibt in einen Leseprozess und nicht nur fertige Urteile präsentiert. Wenn ein Autor etwas gemacht hat, was andere so nicht können, will ich wissen, wie der Kritiker damit umgeht. Lesen heißt antworten, sagt der Literaturtheoretiker George Steiner. Kritiker sind öffentliche Leser, und wenn in meiner Kritik sichtbar wird, was für einen Dialog ich mit dem Text führe, können sich andere in den Dialog einschalten. Idealerweise ist eine Kritik ein Gespräch, ein offener Raum für unterschiedliche Positionen. Ein Klassiker ist ein Werk, das einen Raum um sich herum schafft, der immer fruchtbar bleibt, ein weiterer Gedanke von George Steiner. Das lädt zum Gespräch ein.

Sehen Sie einen Unterschied zwischen Literaturkritik im Internet und in den klassischen Medien?

Mir geht es um interessante Leser. Manche Kritiker finde ich als Leser uninteressant und ganz viele Feld-Wald-Wiesen-Leser hingegen total spannend. Ich bin da nicht festgelegt. Ein interessanter Leser ist für mich einer, der mir etwas zu einem Buch sagt, das mir nicht selbst einfallen würde. Er oder sie öffnet mir eine Tür.

Was ist Ihr ganz persönlicher Anspruch?

Mein Anspruch ist es zu erkennen, wenn der Kafka von heute sein Debut vorlegt und etwas macht, was noch nie dagewesen ist – ein Anspruch, an dem wir wohl alle scheitern. Diese Bücher brauchen Botschafter, die ihnen die Türen zum Leser öffnen, denn gerade die Klassiker von morgen sind heute oft noch nicht zugänglich. Das heißt aber nicht, dass Bücher, die in 50 Jahren niemanden mehr interessieren, nicht wichtig sind: In manchen von ihnen findet das Gespräch einer Gesellschaft mit sich selbst statt, sie sind eher als Diskussionsbeitrag wichtig. Was jedoch die eigentliche Literatur angeht, sollte die Kritik die wichtigen Bücher sichtbar machen, Schlaglichter setzen.

Was fehlt Ihnen in der aktuellen Literaturkritik?

Die Arbeit am Text, mit Argumenten und Belegen. Wenn man über ein Buch schreibt, ist man schnell weg vom Text, da muss man sich selbst immer wieder überprüfen. Es ist einfacher, die Geschichte nachzuerzählen oder das Soziologische zu analysieren, als ein ästhetisches Urteil zu fällen und zu schauen, ob der Stil neu ist. Das ist viel anspruchsvoller als die Nacherzählung, man muss mehr Literatur kennen. Ich finde, eine anständige Stilkritik sollte bei Rezensionen zum guten Ton gehören. Aber sie ist mehr die Ausnahme als die Regel. Die Redaktionen müssten das mehr einfordern.

Gibt es zu diesen Themen Auseinandersetzungen unter Kollegen, wenn man nicht der gleichen Meinung ist?

Ich beobachte das kaum. Ich persönlich bin bereit, mich angreifbar zu machen, damit ein Gespräch in Gang kommt. Wenn ich ein Buch verreiße, das alle für etwas ganz Großartiges halten, dann ist das natürlich eine Kriegserklärung. Dummerweise ist das alles öffentlich, und man wird sich unweigerlich wieder begegnen. Das hemmt die Streitlust.

Was würden Sie sich von dem Gespräch erhoffen, das Sie gerne anstoßen würden?

Es geht nicht darum, wer letzten Endes Recht hat, es geht, flapsig gesagt, um die Show. Beim Literarischen Quartett ist die Show nicht authentisch, das ist ja alles abgekartet. Und es wird nicht am Text gearbeitet. Wenn man mit viel Abstand zum Text kluge Behauptungen in den Raum stellt, passiert literaturkritisch gar nichts.

Ist der Bachmannpreis ein positives Beispiel?

Da kommt das gelegentlich vor, das sind dann die Sternstunden. Wobei selbst da zu viel Empfindlichkeit im Spiel ist. Doch ich beobachte, dass es dort auch Rollen gibt, wie in einer Schulklasse: Einer ist der Klassenclown, der andere der Miesmacher. Wie Maxim Biller seinerzeit im Literarischen Quartett: der Böse vom Dienst. Es fehlt das Spielerische und der Mut, sich der Öffentlichkeit quasi zur Verfügung zu stellen und auch mal eine Schlappe einzustecken. Man müsste eine Arena haben, wie bei einem sportlichen Wettkampf. Dann könnte man sagen: „Okay, wir gehen jetzt auf die Bühne und kreuzen mal die Klingen! Wer bringt das beste Argument?“ Das wünsche ich mir.

Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Geisel. 

Charlotte Steinbock
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