Hier beginnt das Ende. Üblicherweise bedeutet das für uns Studierende, dass wir einen Evaluationsbogen ausfüllen. Die Dozentin/der Dozent wirkt auf mich gut vorbereitet, Die Lehrveranstaltung hat mein Interesse für das Thema geweckt… □ trifft absolut zu, □ trifft teilweise zu, □ trifft eher nicht zu, □ trifft nicht zu. Bei Rainald Goetz wird nichts angekreuzt. Trotzdem steht die letzte Sitzung unter dem Thema Kritik.
„Diese Sitzung ist von vornherein mit Negativität aufgeladen. Die Negativität steht heute im Zentrum und darauf freu’ ich mich.“ Goetz’ Tisch ist ungewohnt aufgeräumt. Er beansprucht nur eine Seite, zwischen seinen Zetteln steht eine Flasche Cola.
Goetz ruft eine Studentin auf und bittet sie nach vorne. „Man muss das auch können. Man muss vertreten können, was man schreibt, sich nicht hinter der Schrift verstecken.“ Die aufgerufene Studentin soll ihre Hausaufgabe vortragen: Ein Text mit dem Titel „Hass“. „Schreiben sie das Wort Hass vorher an die Tafel“, bittet Goetz. Sie liest ein Gedicht.
„Ich fand das Thema sehr schwer. Es gibt keine Personen, die ich hasse. Höchstens aus affektiven Momenten heraus“, sagt der nächste Teilnehmer, als er sich an den Tisch neben Goetz setzt. So geht es vielen von uns.
„Ich krieg keinen mehr hoch. Krieg keinen Fuß mehr vor den anderen“, liest der Nächste in seinem Text über ein Fußballspiel und den daraus resultierenden Hass. „Ich glaube, ich fand die Idee besser als den Text“, seufzt er.
Auch heute ruft Goetz unsere Namen auf und fragt nicht, wer lesen möchte. Nicht zu wissen, ob und wann man dran kommt, macht nervös. Jeder soll den „Hass“ an der Tafel nachmalen, dann lesen, um dann auf dem Stuhl neben Goetz gegrillt zu werden. Wir trauen uns nicht so recht, Kohle nach zu legen und uns gegenseitig zu kritisieren. Goetz schon. „Das ist kein Text“, sagt er zu einer Studentin, die unter anderem über Hass-Avocados geschrieben hat. „Das ist eine Stoffsammlung. Da ist keine Energie. Das ist dahingeplaudert. Schlecht.“
„Ich bin selber nicht zufrieden“, sagt der Autor des nächsten Textes bevor irgendjemand anderes etwas sagt.
„Selbstkritik. Wunderbar!“, sagt Goetz. „Was kann man da machen?“
„Neuen Text schreiben“, sagt der Student.
Laut Goetz kann Kritik nicht nicht hart genug sein. „Gute Kritik ist böse. Je unbegründeter sie ist, desto besser für den Autor“, sagt Goetz. „Weil er sich damit auseinander setzen muss.“ Besonders negative, öffentliche Kritik ist gut für die Autorenpersönlichkeit. „Kritik ist Ausgangspunkt für eigene Gedanken.“ Somit ist jede Kritik berechtigt. „Was ist, wenn man sie nicht annimmt?“, fragt ein Student. „Dann wird man ein zweitklassiger Journalist und ein viertklassiger Autor“, antwortet Rainald Goetz.
Er teilt uns wieder in Gruppen ein, die unter einem bestimmten Thema stehen: Politik, Figur, Körper, Bild, Destruktion, Lied, Wort. Harte, schnelle Blitzkritik sollen wir uns in den Gruppen um die Ohren hauen. „Kritikradikalismus“ nennt Goetz das. Scharf und intuitiv muss der sein. Meine Gruppe hat dabei Schwierigkeiten. Wir haben das Thema Gefühl und genau das scheinen wir nicht verletzen zu wollen. Seit Jahren drücken wir nur auf „gefällt mir“. Haben wir das Kritisieren verlernt?
Im Plenum tragen wir schließlich Kriterien zusammen, mit denen wir zu einem Urteil über unsere Texte gekommen sind. Die Länge ist wichtig. Was ist belanglos? Was kann raus? Wann wird es langweilig? Klang, Struktur und Sprache werden diskutiert. Es gibt Worte mit hohen Allergie-Effekten. „Kritik ist eine Form von Gewalt“, sagt eine Gruppe.
„Interessant, dass niemand von Ihnen jemanden hasst“, findet Goetz. „Es gibt so unendlich viel, was mich anwidert, was ich hasse.“
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Am Nachmittag kippt urplötzlich die Stimmung. Goetz hat erfahren, dass einige Teilnehmer eine Note für sein Seminar brauchen. „Wenn ich ernsthaft benoten soll, könnten da sehr schlechte Ergebnisse rauskommen“, sagt er. „Deswegen gebe ich einfach allen eine 2.“ Sofort hagelt es Proteste. „Das kann einem den Schnitt versauen. Die Standardnote bei uns ist 1,3“, beschwert sich jemand. „Die Uni ist verrückt geworden!“, ruft Goetz. „Diese Bewertung hat nichts mit der Realität zu tun. An diesem Schwachsinn beteilige ich mich nicht. Wenn das so ist, gebe ich jedem eine 3! Das ist befriedigend, das heißt es ist recht okay so. Es gibt Texte von Ihnen, da habe ich mangelhaft drunter geschrieben.“
Es ist still im Raum L32/202, die Stimmung liegt am Boden. „Ich bin jetzt komplett out of order“, sagt Goetz. Ich hoffe, dass das Seminar nicht so endet. Ein Student hebt die Hand. Alle scheinen erleichtert, als er sich wieder dem Thema der Sitzung widmet, von seinem Text spricht und diesen kritisiert.
„Ich habe versucht, diese Werkstatt so gut ich kann zu machen“, sagt Goetz schließlich. „Obwohl ich glaube, dass ein Schreibseminar an der Uni falsch situiert ist. Im Vorfeld habe ich mir die Berichte meiner Vorgänger durchgelesen und gedacht: Falsch! Das will ich nicht machen. Oft war die Rede davon, dass im Seminar ein Klima entstanden ist, indem die Teilnehmer mutig sein konnten, sich zu öffnen. Damit hat Schreiben nichts zu tun. Man muss angewidert sein von allem Kollektiven.“ Goetz rät uns dazu die Isolation zu suchen. „Oder eine eine Gruppe Gleichgesinnter, Leute, die genauso böse und kaputt sind, wie man selbst. Leute, die sich gegenseitig Angst machen mit der Qualität ihrer Gedanken.“ Die Freundschaft mit anderen Künstlern sieht er als eine Art sich steigerndes Spiel, bei dem die Kritik eine wichtige Rolle spielt. „Je verzweifelter man sich selbst gegenüber ist, desto produktiver wird man.“
Goetz ist überzeugt, dass sich das, worum es beim Schreiben geht, nicht vermitteln lässt. „Verbalität macht lächerlich. Ausgesprochene Gedanken sind zerstörend und treiben in die Stille.“ Man muss seine Ideen geheim halten, sogar vor sich selbst. Als Ideengefühl soll man sie in sich leben lassen, um eine Energie zu spüren, die in die Verwirklichung drängt. „Meine Antrittsvorlesung hätte eigentlich gereicht“, sagt er. „Hier vernünftige Lehre zu machen…hat mich überfordert.“ Diese zielgerichtete Veranstaltung und ein auf Erfolg geführtes Leben passen nicht zu einem Schriftsteller. „Fundamentale Kaputtheit, das war früher normal. Drogensüchtig, kaputt, faul und Langweile als etwas Quälendes, Zerstörendes… Fundamental gesunde Menschen sollen lieber Journalisten werden.“
Ich denke darüber nach, dass es im Nachhinein vielleicht gar nicht gut für mich gewesen ist, eine wunderschöne, behütete Kindheit gehabt zu haben. Ich würde mich als relativ gesund bezeichnen. Gut, in meinem Kopf passieren lustige Dinge, wenn mir langweilig wird. Vielleicht reicht das?
„Ich hoffe, es…“, sagt Rainald Goetz und macht eine sehr lange Pause. „…bringt irgendetwas am Ende. Danke!“
Während wir auf die Tische klopfen, denke ich an meinen Yoga-Kurs. Jede Woche, wenn ich auf einer stinkenden blauen Matte in der Stellung des herabschauenden Hundes verharre, frage ich mich, was das Ganze bringen soll und warum ich es tue. Im Nachhinein fühle ich mich dann sehr gut. Als Teilnehmerin der Autorenwerkstatt von Rainald Goetz ging es mir ähnlich.
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