Gerade erst haben wir euch einen Ausblick gegeben, welche technischen Trends den Literaturbetrieb in Zukunft verändern werden. In aller Munde ist natürlich das ebook, das bereits seinen Siegeszug antritt oder demnächst antreten wird. Aber jede Bewegung bringt gleichzeitig ihre Gegenbewegung hervor oder wie mein ehemaliger Philosophieprofessor zu sagen pflegte: Alles ist dialektisch.
Jonathan Safran Foer, amerikanischer Bestseller-Autor und Multitalent, macht mit seinem neusten Werk Tree of Codes vor, was mit einem Buch aus Papier alles möglich ist. Er nahm sein persönliches „Lieblingsbuch“, die Kurzgeschichtensammlung The Street of Crocodiles (deutsch: Die Zimtläden) des polnisch-jüdischen Schriftstellers Bruno Schulz (1892-1942) und versuchte mit Hilfe des Stanzverfahrens (Die cutting), eine neue Geschichte innerhalb der bestehenden herauszuschneiden:
Aus The Street of Crocodiles wurde so durch das Löschen von Wörtern oder einzelnen Buchstaben Foers Tree of Codes. Die ungewöhnliche Vorgehensweise bringt mit sich, dass jede Seite oftmals nicht mehr als ein zwei Sätze und dafür umso mehr Leerstellen aufweist. Oder mit den Worten, die der Polizist zum Verdächtigen in US-amerikanischen Fernsehsendungen sagt – Achtung Kalauer! – „Your story is full of holes.“ Um einen Buchstabensalat zu vermeiden und der Geschichte zu folgen, ist es deshalb ratsam, ein weißes Blatt Papier zwischen die einzelnen Seiten zu legen. Nichtsdestoweniger ist das haptische Erlebnis einzigartig und kaum ein anderes Buch habe ich wohl mit solcher Zärtlichkeit behandelt, ich möchte fast sagen, liebkost. Ob diese Wirkung auch die Ebook-reader von amazon oder Thaila hervorrufen mögen? Ich bezweifele es.
Noch ein paar Worte zum Inhalt: Tree of Codes ist die Geschichte eines namenlosen Icherzählers. Er berichtet, wie sein Vater zunehmend dem Wahnsinn verfällt und angesichts des drohenden Untergangs seiner selbst und dem der Welt (?!?) ausruft: „For one gesture, for one word alone, we shall make the effort. (…) Our creation will be temporary.“ Der Erzähler verzweifelt aber nicht, sondern sieht in der permanenten Wandlung des Lebens ein Wunder. Diese Einsicht kommt einer Art Erweckungserlebnis gleich, ungeachtet heraufbrechender Katastrophen… Metaphernreich und in schaurig-schönen Farben wird die Geschichte erzählt und vermag so den Leser in ihren Bann zu ziehen.
Das Buch umfasst ca. 140 Seiten und ist dementsprechend schnell ausgelesen. Ein kurzweiliges Vergnügen, gewiss. Die Faszination aber bleibt. Denn Tree of Codes verschmilzt auf gekonnte Weise Literatur und Kunst. Es verwundert daher nicht, dass ausgerechnet der renommierte Installationskünstler Olafur Eliasson das Buch als „außergewöhnliche Reise durch Raum und Zeit“ lobt.
Derzeit ist Tree of Codes hierzulande nur bei den einschlägigen Internetanbietern zu bestellen. Wer nicht warten möchte und zufällig in Berlin wohnt, möge die Buchbox! aufsuchen; dort ist es für 28,95€ erhältlich. Ob eine deutsche Ausgabe machbar ist, wird gerade vom Verlag Kiepenheuer & Witsch geprüft. Zu wünschen wäre es!
Schreibe einen Kommentar