“I got me a man named Doctor Feelgood”

Mitreißend wie ein Drogenrausch ist Ulrike Sterblichs Debütroman The German Girl, in dem eine junge deutsche Frau in das glamouröse New York der 1960er und 70er Jahre eintaucht. 

von Harriet Finn

© Harriet Finn

„Seit vielen Jahren injiziert Dr. Max Jacobson, ein 72-jähriger Allgemeinmediziner in New York, Dutzenden der berühmtesten Künstler, Schriftsteller, Politiker und Jetsetter des Landes Amphetamin – ein starkes Stimulans, das in der Drogenkultur als „Speed“ bezeichnet wird – in die Venen.“ So beginnt ein Artikel der New York Times aus dem Jahr 1972. 

Der Artikel beschreibt die Machenschaften des sogenannten „Dr. Feelgood“, zu dessen berühmten Patienten auch Präsident Kennedy gehörte. Das „Wundermittel“, das der Arzt verabreichte, brachte Leute sogar um: darunter den Fotografen Mark Shaw, der in einem berühmten Fotoband Kennedy und dessen Familie porträtierte. 

Und mit diesem realen Tod beginnt „The German Girl“, der erste Roman von Ulrike Sterblich. Vor ihrem Romandebüt moderierte sie oder schrieb für Zeitungen. Man merkt, dass die 42-Jährige das journalistische Handwerk beherrscht.In einem Post auf ihrem Instagram-Kanal zeigt Sterblich nach der Veröffentlichung ihres Romans Türme von Büchern: „Bergeweise Recherche. Jetzt wird aufgeräumt.“ Ihr Roman lebt von dieser hervorragenden Recherche. Ulrike Sterblich verwebt glaubhaft historische Fakten und Fiktion, sodass man eintaucht in eine Welt des Glamours und des Nicht-Schlafen-Könnens im New York der 1960er. 

Aber wer ist nun dieses titelgebende German Girl? Ihre Geschichte ist schnell zusammengefasst. Mona, eine junge Frau aus Berlin, zieht in den 1960er Jahren nach New York, um dort als Model berühmt zu werden. In Deutschland fiel sie immer durch ihr gutes Aussehen auf, doch in New York, der Stadt der Schönen und Berühmten, ist sie nur eine von vielen. Aber sie findet sich bald in der Party- und Künstlerszene New Yorks wieder. In dieser Welt aus nicht endenden Terminen für Filmdrehs und Fotoshootings ist keine Zeit für Müdigkeit oder Angeschlagenheit. Nach kurzer Zeit sitzt Mona im Wartezimmer des berühmten Dr. Max, der ein Wundermittel verspricht. Nach einer kleinen Spritze sieht Monas Welt schon wieder ganz anders aus. 

Je länger sie hinaussah und all die bunten Lichter an ihr vorbeizogen, umso mehr tauchte sie ein […], getragen von einer maßlosen, unerschöpflichen Energie. Es war, als hätte sie die Verbindung hergestellt zu einer Energie, deren Existenz den anderen einfach entging.

Was fehlt noch zwischen glamourösen Partys, avantgardistischen Künstlern und Drogen? Natürlich – Sex. Und auch den bekommen wir. Mona lernt zwei Männer kennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine direkt aus der Partyszene stammend, auch ein Patient des Doctor Feelgood. Er ist Schauspieler und sieht zu gut aus, um wahr zu sein. Auf der anderen Seite ein reicher Geschäftsmann, der in Mona seine große Liebe gefunden zu haben glaubt und ihr eine sichere Zukunft bieten möchte. Fast so kitschig, wie die Beschreibungen der Männer hier erfolgt, entwickeln sich auch die Liebesgeschichten. Doch wir verzeihen es der Autorin, denn sie sind so gut eingebettet in die Beschreibung der Zeit, dass ein bisschen Herzschmerz am Rande durchaus erträglich ist. 

Gekonnt lässt Sterblich immer wieder wahre historische Ereignisse in ihren Text einfließen, auch deutsche Zeitgeschichte wird behandelt. Als Mona in Berlin mit Studierenden unterwegs ist, hört sie von dem Attentat auf Rudi Dutschke. Jedes Kapitel wird mit Songs und Zitaten eingeleitet. ”Don’t send me no doctor / Fillin‘ me up with all of those pills / I got me a man named Doctor Feelgood” – Aretha Franklin “Doctor Feelgood”. Viele der Zitate passen so gut zum Roman, dass man fast denken könnte, Sterblich hätte sie selbst erfunden. In der Playlist „The German Girl – The Playlist“, die die Autorin parallel auf Spotify veröffentlichte, sind all diese Songtitel versammelt. Neben der Lektüre kann man noch mehr in die geschilderte wilde Zeit abtauchen und sich vorstellen, man wäre selbst auf einer glitzernden Party in einem New Yorker Club. 

Neben der sonst sehr klaren und schlichten Sprache stechen die Passagen besonders hervor, in denen Mona sich im Rausch befindet: 

Sie gingen schnell, dynamisch, wie Teilnehmer einer aufwendigen Choreographie, in der sie manche Passanten überholten, manche ihnen entgegenkamen und manche abbogen in Seitenstraßen, Hauseingänge oder Restaurants, während wieder andere neben ihnen in Autos vorbeibrausten oder hoch über ihren Köpfen in den Häusern saßen, standen, schliefen, Musik hörten, sich liebten.

Der Puls der Stadt ist in solchen Passsagen auch in der Sprache spürbar. Doch nach dem Höhenflug kommt der Fall.  Wie wir alle spätestens seit Breaking Bad wissen, bleibt der Genuss von Amphetaminen nicht ohne Folgen. Mona spürt, dass das Loch, in das sie nach ihren durchtanzten Nächten fällt, immer tiefer wird. Andere Pillen und Substanzen müssen her, um sie dort wieder herauszuholen. Dazu kommt Verfolgungswahn. 

Aber Mona ist nicht die einzige, der es schlecht geht. Durch die Durchsuchung der Praxisräume des Wunderarztes kommen immer mehr Fälle ans Licht, in denen nicht nur die angenehmen Seiten der „Vitaminspritzen“ gezeigt werden. Ein anderer Charakter des Romans beschreibt es so: „Übergeschnappt war ich. Launisch. Unberechenbar. Paranoid.“ Nebenwirkungen von Amphetaminen sind Flüssigkeitsverlust, Verspannungen, Kopfschmerzen, Zittern, Halluzinationen und Kreislaufversagen. Neben starker Abhängigkeit können außerdem psychische Effekte wie Angstgefühle, Unruhe, Reizbarkeit, Aggression und depressiver Verstimmungen auftreten. 

Der New York Times Artikel über Dr. Feelgood Max Jacobsen endete damals mit den Worten eines Arztes, der Dr. Jacobsens Patienten mit seinen Methadon-Patienten verglich: „Sie wollen beide dasselbe aus demselben Grund – etwas, das ihr Leben leichter und erfreulicher macht.“

Auf abhängig machende Amphetamine verzichten wir also besser, denn auch Literatur kann unser Leben leichter und erfreulicher machen. Ulrike Sterblichs Roman „The German Girl“ ist ein wunderbares Beispiel dafür. Er hilft auf fantastische Weise, kurzzeitig aus dem grauen Berlin in die Party-Szene des glamourösen New Yorks des 1960er zu entfliehen.

Ulrike Sterblich – The German Girl, erschienen 2021, Rowohlt Hundert Augen, 384 Seiten

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