Im Gespräch mit Takis Würger

Stell dir vor, du wirst gefangen genommen und vor die Wahl gestellt: entweder deine Eltern werden getötet, oder du hilfst mit beim Mord an hunderten von unschuldigen Menschen. Wie entscheidest du dich? Gibt es auf solch ein bestialisches Szenario überhaupt eine richtige Antwort?

Dieser Frage spürt Takis Würger, Schriftsteller und Journalist, in seinem heute erschienenen Roman Stella nach. Das Buch greift die Geschichte der zwanzigjährigen Jüdin Stella Goldschlag auf. Einer schönen, gebildeten und talentierten jungen Frau, die das Leben und die Männer liebt, in einer geheimen Jazzband singt und ihr Geld als Aktmodell verdient. Die aber auch zur Menschenjägerin wird und sich scheinbar mit ihrem Schicksal arrangiert. Eine wahre Begebenheit, die sich im Nazideutschland des Jahres 1942 abgespielt hat und die der Autor in eine diffizile Liebesgeschichte verflocht. Irina hat mit ihm über die Entstehung des Buches gesprochen und darüber, ob Moral universell ist.

Takis Würger 2018 © Sven Döring

 

Wie hat die Geschichte von Stella Goldschlag zu dir gefunden?

Durch einen Kumpel, mit dem ich in Berlin vor 2,5 Jahren auf einem Bordstein saß und der mir von Stella erzählt hat. Ich konnte gar nicht glauben, dass so eine Geschichte noch nicht Teil eines Romans ist und noch in der gleichen Nacht entschieden, darüber zu schreiben.

Hättest du auch über den Stoff geschrieben, wenn dein Kumpel dir eine Geschichte erzählt hätte, die er selbst fabriziert hat?

Wenn sie so gut gewesen wäre, vielleicht! Das faszinierende an der Geschichte von Stella Goldschlag ist aber, dass sie wahr ist. Deshalb treffen uns die Fragen, die der Roman aufwirft mit einer größeren Kraft.

Die Recherche war sicherlich ein ganz großer Teil der Arbeit. Welche Wege bist du gegangen, um an Information zu kommen?

Ich habe viel Zeit im Landesarchiv Berlin verbracht, über einer dicken Gerichtsakte zu Stella Goldschlag. Es ging aber auch darum, dass die Zeit für mich greifbar und lebendig wird. Ich habe mit Museumsdirektoren gesprochen, war in Auschwitz, im Haus der Wannseekonferenz, habe viel über die Zeit gelesen, Tatsachenberichte von Menschen, die damals in Berlin gelebt haben. Darüber gibt es zum Glück sehr gute Literatur. Und es gab eine Reise nach Israel zur Gedenkstätte Yad Vashem, weil das eine Institution ist, die mit die besten Wissenschaftler auf dem Gebiet der Schoa-Forschung hat.

Wie wichtig ist für dich das Faktische deiner Recherche? Erhebst du Anspruch auf korrekte Darstellung, oder hast du dich für den Roman ein Stück weit davon frei gemacht?

Ein historischer Roman sollte schon den Anspruch erfüllen, dass auch der Background stimmt. Der Name der Kunstschule, in der Stella Modell gesessen hat, zum Beispiel. Und wenn ich beschreibe, die Leute essen Austern, muss auch möglich gewesen sein, dass sie 1942 Austern gegessen haben. Dann darf die Auster nicht erst 1980 nach Europa gekommen sein. Und um das zu garantieren, wurden auch solche Details von einem Dokumentar auf ihre Richtigkeit geprüft. Die Dialoge zwischen Fritz und Stella sind natürlich fiktiv. Diese ganze Geschichte ist ausgedacht.

Was passiert eigentlich, wenn ich jemanden liebe, den ich nicht lieben darf?

Hat dich Stellas tatsächliches Leben zu dieser Liebesgeschichte inspiriert, oder gab es schon vorher eine vertrackte Romanze in deinem Kopf, die mit Stella eine passende historische Einbettung fand?

Es war ein Mittelding. Ein Roman hat immer so seine Metathemen und Fragen. Zum Beispiel: was passiert eigentlich, wenn ich jemanden liebe, den ich nicht lieben darf? Was ist richtig, was ist falsch? Was würde ich tun, um meine Eltern zu retten? Das sind auch meine persönlichen Themen. In Der Club, meinem ersten Roman, ging es auch schon darum. Davon wollte ich auch in einem zweiten Roman erzählen. Als ich den Stoff zu Stella bekam, war die Geschichte in meinem Kopf schon so stark, dass ich mit dem Schreiben begann, bevor die Recherche abgeschlossen war. Das Überarbeiten war dann natürlich mühselig. Aber ich glaube, und das wird jedem Schriftsteller gesagt, wenn man schreiben will, dann sollte man auch schreiben. Überarbeiten kann man dann immer noch. Und genau das habe ich gemacht.

Du hast in einem Interview zu deinem ersten Roman Der Club gesagt, du hältst nicht viel von Metaphern. Ist das inzwischen anders?

Wenn der Roman von der Frage handelt, ob es nur schwarz und weiß gibt, oder möglicherweise auch etwas dazwischen, und die Hauptfigur farbenblind ist und alles grau sieht, ist es natürlich kein Zufall.

© Sofie Mörchen

Der Schriftsteller Christian Kracht hat vor Jahren in einem Interview gesagt, Literatur sei ein Organ zur Weltverbesserung und sich Jahre später davon distanziert. Wie siehst du das, hat Literatur, hat der Schriftsteller eine Aufgabe?

In voller Demut und Bewunderung, schließe ich mich da dem großen Christian Kracht an. Ich glaube, das tolle an Literatur ist, dass sie eben keine Aufgabe hat, im Gegensatz zum Journalismus. Ein Roman kann eine unglaubliche Kraft entwickeln, die in alle möglichen Richtungen geht. Er kann möglicherweise auch die Welt verbessern. Deswegen schreibe ich aber nicht. Nun handelt Stella von der Nazizeit und wirft auch einen bestimmten Blick auf sie. Es war mir schon wichtig, von dieser Zeit zu erzählen, weil ich glaube, dass auch wir als dritte Generation nach der Shoa die Aufgabe haben, sie zu unserem Thema zu machen. Aber ich bin nicht missionarisch. Ich erwarte nicht, dass die Leute auf eine bestimmte Weise über die Nazizeit denken, nachdem sie meinen Roman gelesen haben. Allerdings ist es wichtig, dass wir uns an diese Zeit erinnern. Erinnerungskultur ist etwas Aktives und für mich als Schriftsteller bedeutet es eben, dass ich auch einen Roman schreibe, der 1942 spielt.

Auch andere Autoren glauben, die Themen Holocaust und Nationalsozialismus müssen präsent bleiben und finden neue Wege, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Arnon Grünberg wählt zum Beispiel die Provokation. Auch du hast einige Passagen, die recht provokativ sind. Unter anderem Stellas Satz: „Hast du mal überlegt, ob es vielleicht einen Grund hat, dass alle die Juden hassen?“  War es deine Absicht zu provozieren?

Nein, tatsächlich war es in diesem Fall meine Absicht das zu schreiben, von dem ich glaube, Stella hätte es gedacht. Ich finde es schön, wenn ein Roman provoziert, wenn er den Menschen nicht egal ist. Ein gutes Buch kann schockieren, weil es so großartig, lustig, leicht und fesselnd ist, oder weil es unerträglich, unverschämt oder daneben ist. Christian Krachts Faserland ist ein gutes Beispiel dafür. Als es vor über 20 Jahren erschien, gab es diese Art von Literatur noch nicht. Ich finde es toll, wenn ein Roman so etwas schafft.

Auch einige deiner Figuren sind kontrovers. Bei Stella wird erst subtil und schließlich immer mehr deutlich, dass sie sich mit ihrem jüdischen Dasein nicht identifiziert, sondern genau mit dem Gegenteil. Ist das dem historischen Faktum geschuldet, oder hast du an der Figur so lange geschraubt, bis sie so wurde?

Beides. Ich habe meine Recherchen benutzt und sie dann weitergedacht. Es gehört ja auch eine gewisse Anmaßung dazu, einer historischen Figur ganze Dialoge in den Mund zu legen. Das muss man sich aber anlasten, sonst kann man keinen Roman schreiben. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie jemand gewesen sein muss, der in so einer Zwangslage steckte und habe dann eine Idee von Stella Goldschlag entwickelt. Es gibt wahrscheinlich noch viele weitere Möglichkeiten, und die Wirklichkeit war mit Sicherheit auch eine ganz andere. Mein einziger Anspruch ist, dass meine Idee in sich funktioniert.

Ob eine Tat richtig oder falsch ist, bemisst sich ausschließlich an der Tat und nicht daran, wer sie tut.

Tristan ist auch eine wahnsinnig spannende Figur. Ein hochgebildeter, kultivierter Mensch, für den Moral ein zweischneidiges Schwert ist. Gibt es ein Vorbild, nach dem du die Figur konzipiert hast?

Ich habe mir im Zusammenhang mit der Recherche zum Roman Stella auch noch mal die wichtigsten Nazis angeschaut. Es ist faszinierend, dass Himmler, Goebbels, Göring und Bormann so gar nicht dem Ideal des arischen Deutschen entsprochen haben. Goebbels war körperbehindert und sehr klein. Himmler war als Kind so etwas wie ein Loser, der unbedingt Soldat sein wollte, es aber nicht hingekriegt hat. Göring war drogensüchtig und massiv fett. Bormann war ein Unterschichten-Typ und hat sehr darunter gelitten. Der einzige, der schablonenartig in das Bild des arischen Übermenschen gepasst hat, war der Gestapochef Reinhard Tristan Heydrich. Er war fast zwei Meter groß, strohblond, hatte scharfe Gesichtszüge, konnte auf Konzertniveau Geige spielen, hatte sich, obwohl er es eigentlich nicht durfte, weil er zu wichtig war, freiwillig einem Kampfgeschwader angeschlossen und ist Fronteinsätze geflogen. Ich habe ein paar Aspekte von ihm – also das Geigenspielen, das Fechten, die Liebe zur klassischen Musik – entlehnt und sie der Figur Tristan gegeben.

Man hat häufig die Neigung, kultivierte Menschen für besonders empathisch, tolerant, ja besonders moralisch zu halten. Wie siehst du das, ist es verwerflicher als kultivierter Mensch amoralisch zu sein?

Ob eine Tat richtig oder falsch ist, bemisst sich ausschließlich an der Tat und nicht daran, wer sie tut. Ob ein analphabetischer Hafenarbeiter aus Hamburg einen Mord begeht, oder ein Professor der angewandten Literaturwissenschaft, der in Cambridge lehrt, ist irrelevant. Und gleichzeitig ist es so, dass es uns mehr schockiert, wenn es kultivierte Menschen tun.

Kannst du dir das erklären?

Ich kann mir das schon erklären. Wir machen den Fehler zu glauben, weil jemand Brahms hört und Bilder von Cézanne anschaut, hätte er ein überlegeneres moralisches Koordinatensystem, als jemand, der das nicht tut. Das ist auch ein Ergebnis davon, dass wir, die solche Bücher lesen, zu einer Elite zählen. Aber ich glaube, die Wahrheit ist einfach wesentlich komplexer. Das Böse steckt, und das zeigt auch die Geschichte von Gewalt und Verbrechen, eben in allen. Auch in uns, die wir Romane lesen. Auch in den Leuten, die sich für klassische Musik und schöne Dinge interessieren. Wir sind halt Menschen. Und dementsprechend ist die Moral auch zu bewerten.

Wenn das Böse ein Teil jedes Menschen ist, gibt es dann so etwas wie Schuld?

Das Buch gibt darauf eine sehr klare Antwort. Vielleicht ist das ein Grund es zu lesen.

Das ist ein sehr pointierter Schluss. Vielen Dank für das Gespräch, Takis!

 

Takis Würger 2018 © Sven Döring

*Takis Würger, geboren 1985, schreibt neben Büchern auch als Journalist für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Sein Debütroman Der Club erschien 2017 bei Kein & Aber.

 

 

 

 

Stella ist im Hanser Verlag erschienen und ist ab heute im Handel erhältlich. 224 Seiten, ca. 22 €.
Irina Hein

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