Ist das Kunst oder kann das weg? – Völlig falsche Frage!

Ai Weiweis 1000 Jahre Freud und Leid ist eine Autobiografie, die mehr sein will als das. Die gute Nachricht: Man muss sich nicht für Kunst interessieren, um dieses Buch in die Hand zu nehmen. Doch wenn man es am Ende weglegt, sieht man die Wirkkraft von Kunst mit anderen Augen.

©N.n. Wetzel

Ist das Kunst? Auf einem Foto von 1995 reckt Ai Weiwei dem Tiananmen den Mittelfinger entgegen. Das Tiananmen ist das Pekinger Stadttor auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Sechs Jahre vor der Aufnahme des Fotos fand hier das Tiananmen-Massaker statt. Study of Perspective nennt Ai Weiwei sein Kunstwerk.

„Was für ein Unsinn!“, sagte [Ermittler Xu bei einem Verhör], „Das soll Kunst sein? Das ist ein unverhohlener Angriff auf den Staat.“

Ai Weiwei, geboren 1957, ist ein chinesischer Künstler und Menschenrechtsaktivist, außerdem Architekt, Blogger und Kurator. 2014 stellte er auf der Documenta 12 in Kassel aus und produzierte mehrere Dokumentarfilme über die chinesische Polizeigewalt und das absurde Justizsystem, aber auch über die Flüchtlinge aus Nordafrika und die Ertrunkenen an Europas Grenzen. 2011 wird er in einer Aktion wie aus einem schlechtem Film von der chinesischen Polizei entführt – weißer Lieferwagen und Kapuze inklusive – und für 81 Tage gefangen gehalten. 2015 verlässt er China und folgt seiner Familie nach Europa. Nun hat er für seinen Sohn Ai Lao sein Leben und das seines Vaters Ai Qing niedergeschrieben.

Vom gefeierten Dichter zum „großen Rechtsabweichler“ – und zurück

Die besondere Stärke dieser doppelten (Auto-)Biografie liegt in der Beispielhaftigkeit zweier Leben, die zu Spielbällen der politischen Umbrüche und Gewalttaten des chinesischen Regimes werden – und ihnen trotzig die Stirn bieten. Der innere und äußere Widerstand gegen die autoritäre Gewalt verbindet ihre beiden Leben ebenso wie der Einfluss, den die Kunst auf sie hat. Der erste Teil handelt von Ai Qing, geboren 1910, der sich als junger politischer Dichter Mao Zedong anschließt. Während Mao die Literatur als propagandistisches Sprachrohr für den Kommunismus nutzen will, beharrt Ai Qing auf die Freiheit der Kunst; denn nur die freie Literatur könne sich der richtigen Sache – dem Kommunismus – widmen. Durch diese Forderung fällt Ai Qing in Ungnade, wird in eine Strafkolonie verbannt und bis 1979 staatlich geächtet. Ai Weiwei schildert uns das Schicksal seines Vaters in lebhaften Szenen, sodass sich die Biografie fast wie ein politischer Abenteuerroman liest. Doch während die oft katastrophalen Lebensbedingungen realistisch geschildert wirken, erscheinen Ai Qing und sein Verhältnis zur Dichtung von Ai Weiwei idealisch verklärt. Um dem schriftstellerischen Werk des Vaters gerecht zu werden, enthält die Biografie auch einige seiner Gedichte.

An den lyrischen Hintergrund des Vaters erinnert ab und an auch Ai Weiweis eigener Stil, wenn er mit blumigen, manchmal irritierenden, doch immer originellen Vergleichen auftrumpft: „[E]s war offensichtlich, dass wir verschiedene Wege gehen mussten, wie Obst, das reif geworden war und zu gegebener Zeit vom Baum fiel.“ Etwas ermüdend sind dagegen Cliffhanger-Konstruktionen wie „Bald sollte ich erfahren, dass…“ oder „Ich konnte nicht ahnen, dass…“, da sein eigenes wechselhaftes Leben wie auch das seines Vaters solche spannungsheischenden Phrasen nicht nötig haben. Aufgelockert werden auch die unglücklichsten Schicksalsschläge durch Ai Weiweis Humor, der subtil aus seiner Erzählerstimme hervorschimmert oder sich direkt im Geschehen wiederfindet. Besonders die Verhöre, denen Ai Weiwei während seiner Gefangenschaft ausgesetzt war, entfalten trotz oder gerade wegen der eigentlich höchst bedrohlichen Kulisse ihren Witz und demonstrieren die Absurdität des Regimes. 

Weiter ging es. „Was bedeutet der Mittelfinger?“
„In Amerika bedeutet das ‚fuck‘.“
„Und was ist mit dem Tiananmen?‘
„Das ist ein Stadttor.“ 

Vom Zeichentrickstudent zum Staatsfeind

Ai Weiweis Kindheit auf Militärfarmen und in Strafkolonien bildet den Übergang von der Biografie seines Vaters hin zu seiner eigenen. Nach einem gut zehnjährigen Aufenthalt in den USA kehrt der junge Künstler 1993 – politisiert durch das Tiananmen-Massaker – nach China zurück. 1995 entsteht aus Protest gegen das Regime das Mittelfinger-Foto, das sich auch unter den ausgewählten Bildern befindet, die das Buch enthält.

Heutzutage haben junge Menschen in China nicht die geringste Ahnung von den Studentenprotesten am Tiananmen-Platz im Jahr 1989, und wenn sie es wüssten, wäre es ihnen vielleicht sogar egal, denn sie lernen Unterwerfung, bevor sie die Fähigkeit entwickelt haben, Zweifel anzumelden und Annahmen infrage zu stellen. 

Diese Demokratiebewegung, die im gleichen Jahr wie die friedliche Revolution in Deutschland stattfand, ließ das chinesische Regime gewaltsam niederschlagen, zum Preis von 2.600 Menschenleben. Und die junge Generation soll nichts davon wissen? Unvorstellbar! Doch immer wieder arbeitet Ai Weiwei heraus, wie die chinesische Regierung versucht, individuelle wie kollektive Erinnerungen auszulöschen. Er selbst erlebt 2009, wie sein Blog erst zensiert und schließlich jede Spur von Ai Weiweis Existenz aus dem chinesischen Internet getilgt wird. Noch erschütternder aber sind die verbotenen Erinnerungen an das Erdbeben von 2008, das 70.000 Menschen, darunter 5353 Kinder, tötete. Die Namen dieser Kinder durften nicht veröffentlicht werden. Man sollte sie vergessen und mit ihnen das Versagen des Staates, der minderwertige Schulgebäude errichten ließ, die ebenjene Kinder unter sich begruben. Ai Weiwei und sein Team starteten eine Bürgerbefragung, um so viele Kindernamen wie möglich zusammenzutragen. Aus dem Projekt gingen der Dokumentarfilm Little Girl’s Cheek und die Kunstwerke Straight und Name hervor, die die Überreste der Schulgebäude und die Namen von 5196 verstorbenen Kindern zeigen. 

Ist das Kunst? 

Es sind Aktionen gegen das Vergessen.

Erinnerungen und Erzählungen können große Macht entfalten, in Demokratien wie in Diktaturen. Gerade in Deutschland und gerade vor den aktuellen politischen Geschehnissen müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, wie wichtig das generationenübergreifende Erinnern für eine freie und friedliche Zukunft ist. 1000 Jahre Freud und Leid demonstriert diese Notwendigkeit eindrucksvoll. Ist das Kunst? Die eigentliche Frage sollte lauten: Was kann Kunst? Auch hierauf findet Ai Weiwei eine klare Antwort. Es geht nicht um snobistisches Fachsimpeln oder um einen exklusiven Kunstmarkt. Es geht um Menschenrechte, Freiheit und Aufbegehren. 

Wenn man nach dieser mitreißenden Lektüre das Buch zuklappt, lohnt sich noch ein Blick zurück an den Anfang: auf das Cover. Was zuerst als buntes Kunst-Wirrwarr erschien, offenbart sich nach dem Lesen als Wimmelbild: Links und rechts am Buchrand thronen die 12 Tierköpfe aus Circle of Animals. Beim genaueren Hinsehen entdeckt man auch eine Vielzahl von Coronavieren, Handschellen, Überwachungskameras und Lampions, die Ai Weiwei unter den staatlichen Überwachungskameras vor seinem Grundstück aufhängte. Wer findet noch mehr?

Für die konventionelle Kultur muss die Kunst ein Dorn im Auge sein […]: Kunst kann deshalb nicht ignoriert werden, weil sie destabilisiert, was sicher und gesetzt zu sein scheint. 

Dass ich auf der schwarzen Liste stand, rührte direkt von meinem Verständnis von Kunst als Form der gesellschaftlichen Intervention, die die Werte der Gerechtigkeit und Gleichheit fördert.

[D]ie Kunst dient schlicht als Wegbereiterin für kollektive Überlegungen: Sie bietet einer Gruppe oder einer Nation die Gelegenheit, auf ein Thema aufmerksam zu werden und ihr Bewusstsein zu schärfen.

Ai Weiwei: 1000 Jahre Freud und Leid. Erinnerungen. Penguin Verlag: München 2021. Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz und Elke Link. Übersetzung der Gedichte aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck.

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