„Ich wusste ja gar nicht, was mir alles entgeht“

Wir sollten alle mal öfter unsere Berührungsängste über Bord werfen und mehr nicht-westliche Literatur lesen, findet Journalist und Autor Gerrit Wustmann. Warum das so ist, wie der deutsche Buchmarkt diesen Büchern im Wege steht und warum genau deswegen die Arbeit des Vereins Litprom e.V. so wichtig ist, erzählt er im Gespräch. 

© Hellen Pass

Viele Menschen lesen hauptsächlich Literatur aus Europa oder Nordamerika. Warum ist es so wichtig, dass wir anfangen, mehr nicht-westliche Literatur zu lesen?

Wenn wir heute über Weltliteratur sprechen, sprechen wir fast immer nur über westliche Literatur. Darin steckt die Behauptung, nur im Westen würde Literatur von Weltrang geschrieben werden, was offensichtlicher Blödsinn ist. Genau deswegen sollten wir auch die anderen Literaturen entdecken. Wir bringen uns selber um wunderbare Erfahrungswelten, wenn wir die Hälfte der Welt bei unserem Lesen einfach ausklammern. Außerdem geht es darum, auf sehr angenehme Weise den eigenen Horizont zu erweitern, die Perspektive zu verschieben und uns klarzumachen: Natürlich geht mich das was an, was in Asien, Afrika und Lateinamerika passiert. 

In nicht-westlicher Literatur wird oft anders erzählt als in westlicher Literatur, weil sich die Literatur dort ganz anders entwickelt hat. Wie wird das bei den Veranstaltungen von Litprom von Ihren Gästen aufgenommen?

Ja, das stimmt, gerade das ausschweifende Erzählen wird zum Beispiel in den arabischen Ländern immer noch wahnsinnig zelebriert. Bei uns verschwindet das immer mehr aus der Prosa. Auf Lesungen kommen leider oft immer dieselben Menschen. Es ist natürlich auf der einen Seite schön zu wissen, dass man ein treues Publikum hat. Auf der anderen Seite wäre es manchmal schön, wenn Leute kommen würden, bei denen man nicht weiß, dass man schon offene Türen einrennt. Die Leute, die sich das erste Mal auf so eine Veranstaltung trauen, kommen oft zu den Litprom Literaturtagen in Frankfurt. Hinterher sind sie dann meistens begeistert und merken, dass sie nicht-westliche Literatur wahnsinnig interessant finden. Die sagen dann oft: „Ich wusste ja gar nicht, was mir alles entgeht.“

Wir bringen uns selber um wunderbare Erfahrungswelten, wenn wir die Hälfte der Welt bei unserem Lesen einfach ausklammern.

Der Verein Litprom versucht ja genau an diesem Punkt anzusetzen. Wie werden Sie denn auf die Bücher aufmerksam, die Sie unterstützen wollen, im Angesicht der unzähligen Titel, die jedes Jahr erscheinen?

Nehmen wir ein Beispiel: Aus Oman gibt es bisher nichts auf dem deutschen Buchmarkt. Jetzt erscheint 2023 das Buch „Monddamen“ von Jokha Alharthi, mit dem sie 2019 den Man Booker International Prize gewonnen hat. Das wird dann natürlich übersetzt. Außerdem haben wir bei Litprom selbst und im Umkreis Leute, die sich in den Literaturen unterschiedlicher Länder auskennen und uns Empfehlungen für interessante Bücher, auf die sie gestoßen sind, geben. Und wir sprechen natürlich auf Buchmessen und Festivals mit Autor*innen aus den jeweiligen Ländern und fragen nach, was bei denen in letzter Zeit erschienen ist und was aus ihrer Sicht übersetzt werden müsste.

Wie verhindert man denn da, dass man nicht nur auf die Bücher aufmerksam wird, die in den jeweiligen Ländern schon sehr bekannt sind? Wie entdeckt man auch schlecht vernetzte, unbekannte oder junge Autor*innen?

Das ist natürlich schwierig. Das Problem ist, dass man auch regelmäßig Sachen machen muss, die in den Ländern schon relativ erfolgreich sind. Es hilft, wenn man den Verlagen etwas zur Hand geben kann und zum Beispiel sagen kann: „Das ist dort ein Bestseller und hat schon Preise gewonnen, das könnt ihr hier auch gut verkaufen.“
Von außen ist es auch kaum möglich, so im Detail den Buchmarkt eines Landes zu überblicken, dass man auch die kleinen interessanten Stimmen auf dem Schirm hat. Manchmal entdecken wir dann aber doch auch junge und unbekannte Autor*innen. Das geht dann im Wesentlichen über Empfehlungen von Autor*innen vor Ort. Wir haben zum Beispiel die Autorin Fariba Vafi gefragt, ob sie in letzter Zeit ein Buch gelesen hat, das auf jeden Fall übersetzt werden sollte. Sie hat uns Maryam Djahani empfohlen, eine junge Autorin, deren Debütroman „Ungebremst durch Kermanschah“ dann Ende letzten Jahres im Sujet Verlag erschienen ist. 

Ein großes Problem, warum diese Bücher so wenig gekauft werden, ist, dass der größte Teil der Menschen, die Bücher lesen, von diesen Titeln überhaupt nichts weiß.

Der Buchmarkt wird wie die gesamte globalisierte Welt immer internationaler und kosmopolitischer. Inwiefern kann dann die Herkunft eines Buches noch ein Kriterium für dessen Förderung sein?

Es stimmt, dass es einen immer intensiveren Austausch von Autor*innen über Länder- und Kontinentalgrenzen hinweg gibt. Unter anderem eben auch über Aufenthaltsstipendien, Austauschbesuche und Literaturfestivals. Das wirkt natürlich auch in das literarische Schreiben der jeweiligen Akteure hinein. Das heißt die Literaturszene wird tatsächlich immer kosmopolitischer und internationaler. Aber genau das spiegelt sich ja leider auf dem Buchmarkt nicht wider. Über 60% der jedes Jahr neu in Deutschland erscheinenden Übersetzungen, sind Übersetzungen aus dem Englischen. Dann kommen Übersetzungen aus den nächsten offensichtlichen Sprachen wie Französisch oder Italienisch. Und ganz weit hinten kommen dann irgendwo unter der 10%-Marke die ganzen nicht-westlichen Sprachen. Es herrscht da ein massives Ungleichgewicht in der Menge und folglich eben auch in der Wahrnehmung.

Warum reagieren die Verlage denn so zögerlich auf diese Bücher?

Ganz einfach: Weil die Bücher sich nicht verkaufen. Sachen abseits des Massengeschmacks haben sich schon immer schlecht verkauft. Selbst Goethe war zu seiner Zeit kein Bestseller. Die Bestsellerautoren aus Goethes Zeit, die kennt heute zu Recht niemand mehr. Die Bestseller von heute kennt in der Regel auch nächstes Jahr schon niemand mehr. Das Problem mit den kleinen Literaturformen, dazu gehört zum Beispiel die Lyrik oder auch Literatur aus nicht so populären Ländern, ist, dass sie nur von sehr wenig Menschen gelesen und gekauft werden.

Woran liegt das?

Das hat verschiedene Gründe. Das sind zum einen die teils irrationalen Berührungsängste des Publikums, das denkt, es kann mit diesen Büchern nichts anfangen. Zum anderen haben wir das Problem, dass es in den Feuilletons kaum Akteure gibt, die nicht-westliche Literatur auf dem Schirm haben oder sie auch nur ernst nehmen. Ein großes Problem, warum diese Bücher so wenig gekauft werden, ist, dass der größte Teil der Menschen, die Bücher lesen, von diesen Titeln überhaupt nichts weiß. Sie stoßen in der Zeitung nicht drauf, sie stoßen im Internet nicht drauf und in der Buchhandlung stoßen sie auch nicht drauf.

Meines Erachtens findet die wirklich spannende Literatur sehr oft nicht in den großen Publikumshäusern, sondern in den kleinen Verlagen statt.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Das hat sich dieses Jahr wieder gezeigt. Landauf landab sind Listen über die wichtigsten und interessantesten Bücher, die im Jahr 2022 erscheinen werden, rausgekommen. Auf diesen Listen steht fast überall das Gleiche. Und zwar fast nur Bücher aus Publikumsverlagen von Autor*innen mit landläufig bekannten Namen. Ich stelle mir dann immer die Frage: Wozu brauche ich diese Redaktionen, wenn sie so schlecht arbeiten? Die müssen mir doch nicht die Bücher vorexerzieren, über die ich sowieso in zwei Monaten in jeder Buchhandlung stolpere. Das ist doch völlig uninteressant. Ich will doch, wenn ich sowas lese, auf was Neues gestoßen werden. Ich will doch was entdecken, was ich sonst vielleicht nicht entdeckt hätte. Deswegen machen wir auch bei Litprom den Weltempfänger, eine Bestenliste, die sich ausschließlich auf Bücher aus Asien, Afrika und Lateinamerika konzentriert. 

Woher kommt es, dass diese Bücher so wenig sichtbar sind?

Das liegt unter anderem daran, dass ein großer Teil von ihnen in kleinen Verlagen erscheint, die traditionell in den Medien einfach nicht ernst genommen werden. Das ist ein großer Fehler. Meines Erachtens findet die wirklich spannende Literatur sehr oft nicht in den großen Publikumshäusern, sondern in den kleinen Verlagen statt.

War das schon immer so oder ist das ein Problem unserer Zeit?

Es gab in den letzten zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren einen massiven Kulturwandel. Es wurden immer mehr altgediente Verleger*innen in den großen Verlagen durch Manager*innen ersetzt. Da ist schlicht und ergreifend das Geschäftsziel, dass jedes Buch einen bestimmten Gewinn abwerfen muss. Die kleinen Literaturen fallen da vollkommen raus. Viele kleine Verlage setzen sich hingegen sehr energisch für diese Literaturen ein. Sie haben es aber nicht nur schwer, damit in den Feuilletons zu erscheinen, sondern auch in den Buchhandel zu kommen. Es ist kein Zufall, dass in den großen Buchhandelsketten immer Bücher derselben Großverlage so prominent platziert sind. Dafür fließt oft Geld. Die liegen da also nicht, weil die Buchhändler*innen sie so toll finden. Und das können sich die kleinen Verlage schlicht und ergreifend nicht leisten.

Die thematische Vielfalt ist in anderen Ländern literarisch genauso groß wie in Deutschland. Uns geht es schlicht und ergreifend um literarische Qualität.

Wie geht denn Litprom in der Zusammenarbeit mit den Verlagen vor, um das zu verändern?

Die Zusammenarbeit geht in beide Richtungen. Litprom spricht zum einen Empfehlungen für die Verlage aus. Außerdem sprechen wir Verlage direkt an, wenn wir glauben, dass ein bestimmter Titel gut zu ihrem Programm passt. Es gibt aber auch den umgekehrten Weg. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Bücher von Fariba Vafi. Da hat der Sujet Verlag gesagt: „Das sind tolle Bücher!“ Gerade die kleinen Verlage haben aber oft Schwierigkeiten, die Übersetzungskosten zu stemmen. Also schreibt der Verlag ein Gutachten, argumentiert, warum das Buch auf Deutsch erscheinen soll und stellt einen Förderantrag an Litprom. Und wenn dann das Team von Litprom auch sagt: „Das klingt interessant, das wollen wir unterstützen“, dann gibt es ein Go für die Übersetzungsförderung. 

Müssen diese Texte denn immer politisch oder kritisch sein, um die nötige Relevanz für ein deutsches Publikum zu haben?

Nein, um Gotteswillen nicht. Aus vielen Ländern, die wir vor allem aus der Tagesschau kennen, die vielleicht autokratisch regiert sind, oder wo es Probleme mit Menschenrechten oder der Meinungsfreiheit gibt, wird leider oft genau auf diese Themen auch bei der Literaturübersetzung ein Fokus gesetzt. Das ist ein Problem, das Einseitigkeit produziert. Dann glauben die Lesenden, die großen politischen Themen wären die einzigen Themen, die es in diesen Ländern und ihren Literaturen gibt. Das stimmt natürlich nicht. Die thematische Vielfalt ist in anderen Ländern literarisch genauso groß wie in Deutschland. Uns geht es schlicht und ergreifend um literarische Qualität.

Für alle Menschen, die jetzt Lust bekommen haben, ihren Lesehorizont zu erweitern: Welche Autor*innen oder Bücher sollte man denn nun aus Ihrer Sicht auf jeden Fall gelesen haben?

(lacht) Das ist natürlich bei 197 Ländern auf der Welt schon schwierig zu beantworten. Ich gehe jetzt einfach mal von meinen literarischen Lieblingsländern nämlich Iran und Türkei aus. Wenn man sich für Iran oder für persische Literatur interessiert, sollte man sich auf jeden Fall Fariba Vafi ansehen. Von ihr sind schon fünf Bücher auf Deutsch erschienen. Das Aktuellste ist die Kurzgeschichtensammlung „An den Regen“. Fariba Vafi ist eine wunderbare Erzählerin, eine sehr genaue Beobachterin von Menschen und Alltag. Ich kenne kaum eine Autorin, die so brillant wie sie in der Lage ist, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern auseinander zu nehmen. Oft bissig, dabei aber auch immer sehr liebevoll, sehr humorvoll. Zugleich schafft sie es, den kleinen Mikrokosmos des Alltags in ein großes Ganzes der Welt und des Lebens einzubetten. (lacht) Das klingt vielleicht jetzt alles ein bisschen kompliziert, ist es aber gar nicht. Ihre Texte lesen sich wahnsinnig leicht und angenehm. 

Und aus der Türkei?

Da würde ich Yavuz Ekinci nennen und dessen Roman „Die Tränen des Propheten“. Eine wunderbare Satire auf die Gegenwart. Der Protagonist ist ein Eigenbrötler, der eigentlich nie aus dem Haus geht, sondern immer nur im Internet rumhängt. Dann erscheint ihm eines Nachts der Erzengel Gabriel und gibt ihm eine Botschaft mit. Er sagt: „Ist doch alles scheiße hier auf der Welt. Es ist mal wieder Zeit für einen neuen Propheten. Du musst jetzt die Menschen wieder in die richtige Bahn lenken.“ Der Protagonist geht dann aus seiner Wohnung und schlurft durch Istanbul. Schnell merkt er, dass es im 21. Jahrhundert nicht so leicht ist als Prophet. Alle halten ihn für einen kompletten Spinner. Von dieser Ausgangslage aus schreibt Ekinci eine herrliche Gesellschaftssatire auf unsere Zeit. Es ist ein sehr böses, zugleich aber auch wahnsinnig witziges Buch. Es macht großen Spaß, das zu lesen.

Der Verein Litprom e.V. hat sich vor 42 Jahren mit dem Ziel, nicht-westliche Literatur zu fördern, gegründet. Der Fokus wird dabei auf die Übersetzungsförderung, aber auch auf die Literaturvermittlung in Form der Bestenliste „Weltempfänger“ und den Litprom Literaturtagen in Frankfurt gelegt.

Gerrit Wustmann ist Vorstandsmitglied des Vereins, Journalist und Autor. Zuletzt ist 2021 sein Buch „Weltliteratur. Warum wir ein neues Literaturverständnis brauchen.“ im Sujet Verlag erschienen.

Erwähnte Literatur

Jokha Alharthi: Monddamen. Aus dem Arabischen von Claudia Ott. Sujet Verlag 2023. 

Maryam Djahani: Ungebremst durch Kermanschah. Aus dem Persischen von Isabel Stümpel. Sujet Verlag 2021. 

Yavuz Ekinci: Die Tränen des Propheten. Aus dem Türkischen von Oliver Kontny. Verlag Antje Kunstmann 2019. 

Fariba Vafi. An den Regen. Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich. Sujet Verlag 2021.

Gerrit Wustmann. Weltliteratur. Warum wir ein neues Literaturverständnis brauchen. Sujet Verlag 2021.

2 Kommentare zu „„Ich wusste ja gar nicht, was mir alles entgeht““

  1. bonsera, juliette

    grossartig!! ich kann jede Aussage von Herrn Wustmann nur unterstützen.
    ich lese praktisch nur nicht-westliche Literatur u. bin davon begeistert.
    vielen Dank für die Tips.

  2. Vielen Dank, Herr Wustmann für diesen wunderbaren Beitrag, den ich im regelmäßig erscheinenden Netzrückblick des „Kaffeehaussitzers“ ( http://www.Kaffeehaussitzer.de ) gefunden habe. Ich kann ebenfalls jede Aussage unterstützen. Ich bin seit vielen Jahren Mitglied der Büchergilde Gutenberg und werde in dem regelmäßig erscheinenden Magazin immer über die Litprom-Bestenliste informiert. Ich lese regelmäßig alle Bücher der neuen Reihe „Büchergilde -- Weltempfänger“ und war bislang immer begeistert von den Büchern der Reihe „Weltlese“. Seit vielen Jahren interessiert mich die Literatur der Welt. Ich lese natürlich auch europäische und nordamerikanische Literatur aber eben auch regelmäßig Literatur aus anderen Teilen der Welt. Vor einigen Jahren hat Sigrid Löffler in ihrem Buch „Die neue Welt-Literatur und ihre großen Erzähler“ (C.H.Beck) meines Erachtens einen großartigen Überblick gegeben.
    Jeder sollte beim Lesen regelmäßig mal über den Tellerrand schauen. Das ist ein großes Geschenk.
    Liebe Grüße!

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