Über die Lücken der Erinnerung: Nadja Spiegelman – Was nie geschehen ist

Nadja Spiegelman, Tochter des berühmten Comiczeichners Art Spiegelman, hat mit Was nie geschehen ist ihren ersten Roman vorgelegt. Darin erzählt sie die Lebensgeschichten ihrer Mutter und Großmutter – und stößt dabei auf unerwartete Lücken und Widersprüche.

Was nie geschehen ist © Katharina Korbach

„Als ich das Licht der Neonröhren im St. Vincent’s Hospital im East Village erblickte, fiel ein anderer Teil von mir aus dem Stift meines Vaters als schwarze Tintenträne auf die Seite.“

 

Die Seite, von der hier die Rede ist, wird später als Teil von Maus werden, der legendären Graphic Novel über einen Auschwitz-Überlebenden, die 1992 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr Schöpfer, der Comiczeichner Art Spiegelman, ist Nadja Spiegelmans Vater. Im Debüt der 1987 geborenen Autorin spielt er allerdings eher eine Nebenrolle. Im Fokus stehen stattdessen die Frauen in Nadja Spiegelmans Familie. Ihre Mutter, Françoise Mouly, wächst als die zweitälteste von drei Schwestern in einer gleichermaßen wohlhabenden wie kaputten Pariser Familie auf. Der Vater Paul ist Schönheitschirurg und spielsüchtig. Die exzentrische Mutter Josée, Nadjas Großmutter, hat zahlreiche Affären, lässt sich schließlich von Paul scheiden und zieht auf ein luxuriöses Hausboot am Seineufer.

Was inmitten all der kleineren und größeren Eskapaden der Eltern oftmals untergeht, ist das Wohlergehen von Tochter Françoise. Seit frühester Kindheit ringt diese vergeblich um die Zuneigung ihrer Mutter Josée, die Françoises beharrliche Liebesbekundungen jedoch nicht zu deuten weiß und sie als Dreizehnjährige kurzerhand zum Psychiater schickt. Als junge Frau flieht Françoise vor der beklemmenden familiären Situation nach New York, wo sie wochenlang in einer Fabrik haust und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält, bis es ihr gelingt, sich am eigenen Schopf aus der Misere zu ziehen. Sie gründet einen Kinderbuchverlag und wird Art-Direktorin der Zeitschrift New Yorker.

 

Gespräche mit der Mutter als Versuche der Annäherung

Nadja Spiegelman wächst in New York auf. Das Vorhaben, Françoise‘ Vergangenheit zu rekonstruieren und aufzuschreiben, scheint vor allem dem Wunsch zu entspringen, das Wesen der Mutter besser zu verstehen. Die Erinnerungen werden im Roman nicht als geschlossene Erzählung, sondern vor allem in Form der zahlreichen Telefonate und Skypegespräche wiedergegeben, die Nadja Spiegelman mit Françoise Mouly geführt hat. Im ersten Teil des Buches entsteht so ein scheinbar schlüssiges Bild der Geschehnisse, das jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt ins Wanken gerät, als Spiegelman nach Paris reist, um auch ihre Großmutter Josée zu den Ereignissen der Vergangenheit zu befragen. Während ihrer Recherche muss die Autorin feststellen, dass die Erinnerungen von Mutter und Großmutter nicht deckungsgleich sind, sich an mehreren Stellen sogar widersprechen. Es wird einmal mehr deutlich, wie fremd die Frauen sich untereinander eigentlich sind, sodass Nadja Spiegelman nach ihren Gesprächen mit der Großmutter feststellen muss:

 

„Meine Mutter hätte Josée bestimmt gemocht – wenn sie sie gekannt hätte.“

 

Ein Buch über die Formbarkeit der Erinnerung

Spiegelman hat nicht nur die Geschichte ihrer Familie aufgeschrieben, ihr Roman ist nicht zuletzt auch ein Buch über die Funktionsweisen des Erinnerns. An einer Stelle zitiert die Autorin eine Erkenntnis der Neurowissenschaft, nach der Erinnerungen aus dem Langzeitgedächtnis, einmal aufgerufen, für etwa drei Stunden im menschlichen Bewusstsein präsent sind. In diesem Zeitraum ist die Erinnerung formbar:

 

„Die Gegenwart dringt in die Vergangenheit ein. Wir fügen Einzelheiten hinzu, um Lücken zu füllen. Das Gehirn codiert und speichert die Erinnerung neu. Und überschreibt dabei die vorherige Version. Während die Erinnerung wieder in den Tiefen unseres Geistes verschwindet, sind wir uns nicht einmal darüber bewusst, was wir hinzugewonnen und was wir eingebüßt haben, geschweige denn, warum.“

 

Im Zuge der Arbeit an ihrem Roman stellt Spiegelman fest, dass dieser Vorgang der unbewussten Transformation von Erinnerung offenbar auch die Frauen ihrer Familie betrifft. Mutter und Großmutter haben vergangene Ereignisse auf jeweils unterschiedliche Weise verdrängt, verfälscht oder ihnen Details hinzugefügt. Gerade die Auslassungen in den Geschichten lassen auf Versehrtheiten schließen, derer sich die Protagonistinnen selbst (noch) nicht bewusst sind.

Wenn man Nadja Spiegelman einen Vorwurf nicht machen kann, dann den, dass sie von langweiligen Charakteren erzählt. Ist man zu Beginn der Lektüre möglicherweise aufgrund der komplexen Konstruktion des Textes noch irritiert (An welchem Ort und zu welchem Zeitpunkt der Handlung befinden wir uns gerade? Wer ist gerade Mutter, wer Tochter?), werden die Protagonistinnen im Zuge des Lesens immer plastischer. Kapitel um Kapitel taucht man tiefer ein in die Welt des Romans und begleitet Nadja Spiegelman gespannt auf ihrer Suche nach der eigenen biographischen Wahrheit. Alles in allem: ein faszinierendes, psychologisch raffiniertes Drei-Generationen-Portrait, das die Lektüre lohnt.

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