Endlich erwachsen – Berichte vom 18. ilb

Bereits zum 18. Mal hat das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) in diesem Jahr stattgefunden. Das bunt gemischte und aktuelle Programm und die Einladung von Autor*innen aus aller Welt ermöglichten wieder den Blick auf Literatur anderer Kulturen und interessante Entdeckungen fernab des Mainstreams.

ilb 2018 – Das Publikum ist gespannt © Theresa Feldhaus

Das Festival erschien mir noch größer und weiter in der ganzen Stadt verteilt als in den vergangenen Jahren. Das machte die Auswahl der Veranstaltungen, die ich in diesem Jahr besucht habe, nicht gerade leichter. Wie in den letzten Jahren wollte ich möglichst viele Veranstaltungen aus unterschiedlichen Sparten zu besuchen, um einen Eindruck des gesamten Festivals zu bekommen. Besonders interessiert hat mich das Special über Nature Writing, zu dem noch ein eigener Artikel folgen wird.

Hier berichte ich mal kürzer und mal länger von einigen Lesungen oder Diskussionen, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind. Auch Charlotte hat das ilb in diesem Jahr wieder besucht und berichtet in einem eigenen Artikel von ihren Erlebnissen und Eindrücken.

ilb 2018 © Theresa Feldhaus
Talkin‘ Bout a Revolution

Revolution, Widerstand und Verweigerung als wichtiger Bestandteil der Kinder- und Jugendliteratur? Diesem Thema widmete sich die von der StaBi und der HU organisierte Konferenz mit Anspielung an Tracy Chapmans Song Talkin‘ Bout a Revolution. Anlässlich der Jubiläen von 100 Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs und 50 Jahre nach der 68er Bewegung ging es in den verschiedenen Vorträgen sehr unterschiedlicher Qualität um das widerständische Potenzial von Büchern. Im Mittelpunkt stand die Bedeutung von Worten und Bildern, die nachhaltigen und strukturellen Wandel hervorrufen können – insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Besonders spannend war ein visuell toll aufbereiteter Vortrag von Peter Rinnethaler über Bildästhetische Repräsentationen von Revolutionen in Bilderbuch, Comic und Graphic Novel.

Darin stellte er die Frage, ob Kunst ihre Widerständigkeit und ihren revolutionären Charakter verlieren kann, wenn beispielsweise Che Guevara und Guy Fawkes zu kommerzialisierten Figuren gemacht werden. Anhand eines Vergleichs der Bücher der Vorzeige-Autonomen Pippi Langstrumpf aus den Jahren 1967 und 2007 zeigte er, wie brav und wenig widerständig die Figuren in der neuen Ausgabe sind. Es folgte ein spannender Exkurs in verschiedene aktuelle Kinder- und Jugendbücher wie Hier kommt keiner durch, Vakuum oder Fahrradmod, in denen das revolutionäre Potenzial noch nicht verloren gegangen ist. Dabei zeigte sich das Widerständische u.a. in Form vom passiver Resistenz, Omnipotenz, der jugendlichen Verweigerung und Ablösung von der Erwachsenenwelt oder der Entwicklung eines eigenen Wertesystems innerhalb einer Subkultur. Ein spannender Vortrag über die Macht von Bildern.

Graphic Novel Day
Graphic Novel Day 2018 © Theresa Feldhaus

Passend zu diesem Vortrag war ich am Festivalsonntag beim Graphic Novel Day, der zum 8. Mal von Journalist Lars von Törne kuratiert und sehr interessant und gut vorbereitet moderiert wurde. Hier habe ich in den letzten Jahren einige Künstler*innen kennen gelernt, auf deren Werke ich sonst wohl nie aufmerksam geworden wäre. Von einer Veranstaltung möchte ich ausführlicher berichten. Der diesjährige GND begann mit einer kleinen Enttäuschung, da die schwedische Autorin Liv Strömquist, bekannt für Der Ursprung der Welt, ihre Teilnahme wegen Krankheit absagen musste. Doch die kurzfristig organisierte Alternativveranstaltung Feministische Stimmen im Comic mit den Comic-Künstlerinnen Aisha Franz und Katia Fouquet sowie Katharina Erben, der Übersetzerin von Liv Strömquist, hat mir einen wunderbaren Eindruck der modernen Comicszene gegeben.

Ich habe interessante Künstlerinnen kennen gelernt, die sich auf dem Comicmarkt behaupten, der lange nur von Männern geprägt war. Sie repräsentieren eine neue Generation von Künstlerinnen, die neue Themen aufbringt und damit ein breites Publikum anspricht. Damit durchbrechen sie patriarchale Gesellschaftsstrukturen und finden Wege zur Selbstermutigung. In der Diskussion ging es auch um die Möglichkeit, durch Adaptionen klassischer Werke neue Perspektiven aufzuzeigen. Katia Fouquet hat beispielsweise in ihrer Adaption von Camus‘ „Jonas oder der Künstler bei der Arbeit“ der Figur der Luise mehr Bedeutung als im Original gegeben. Ulli Lust berichtete vom Umgang mit autobiografischen Erfahrungen in ihrer Kunst, die eine Art Selbstoffenbarung darstellt. Zuletzt ging es auch um den politischen Protest durch Comics, wie zum Beispiel das Magazin Resist, das von Comic-Künstlerinnen als Protest gegen Trump für den Women March gestaltet wurde.

USA – Land of the Free (Gun Use)
ilb 2018: Gun Love © Theresa Feldhaus

Auch im Jahr 2018 ist es noch eine traurige Tatsache, dass in den USA nach zahllosen Gewalttaten weiterhin kontrovers über den Besitz und den Gebrauch von Waffen diskutiert wird. Zwei Autor*innen haben sich diesem Thema auf interessante und ganz unterschiedliche Weise literarisch genähert.

Jennifer Clement, derzeitige Präsidentin des internationalen Autorenverbands P.E.N. gibt in ihrem Roman Gun Love einen poetischen Einblick in die amerikanische Psyche. Ihr Buch handelt von der 14-jährigen Pearl, die seit ihrer Geburt mit ihrer Mutter am Rand eines Trailerparks im Auto lebt. Dort wachsen Kinder mit Pistolen als Haustierersatz auf und Schießübungen gehören zum Alltag. Pearl und ihre Mutter haben sich inmitten dieses Wahnsinns ihren eigenen Mikrokosmos geschaffen. Sie versuchen der Gewalt außerhalb der Windschutzscheibe zu entkommen, die sich jedoch gnadenlos bis zu ihnen hindurchdringt. Im Gespräch verdeutlichte die in Mexiko lebende Clement ihre politische Haltung und ihren Einsatz für strengere Waffengesetze. Sie glaubt daran, dass Literatur sozialen Wandel hervorrufen kann, aber darin liegt nicht die Intention ihres Schreibens. Vielmehr möchte sie das Hässliche im Schönen, das Göttliche im Weltlichen und das Spezielle im Allgemeinen hervorheben. Mit diesem Ansatz gelingt es ihr, ein eindrückliches Porträt der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Faszination für die Waffen zu zeichnen.

Einen außergewöhnlichen Stil wählt Jason Reynolds in seinem neuesten Buch Long Way Down. Die Geschichte ist stark verdichtet in reiner Versform erzählt und handelt von 67 Sekunden im Leben eines Teenagers. Um den Mord an seinem Bruder zu rächen, steigt Will mit einer Pistole in den 7. Stock eines Fahrstuhls. Bei jedem Halt auf seiner Fahrt nach unten wird er mit seinen Ängsten und Zweifeln konfrontiert. Dabei beginnt er die Werte und Regeln seiner Gemeinschaft zu hinterfragen.

Sehr persönlich ging Reynolds auf die zahlreichen Fragen des jugendlichen Publikums ein und berichtete von seinen autobiografischen Erfahrungen mit (Waffen-)Gewalt, die ihn zum Schreiben des Buches bewegt haben. Als Teenager fühlte er sich in keinem Buch repräsentiert – erst im aufkommenden Hip Hop konnte er sich und seinen Lebensstil wiederfinden. Queen Latifah wurde seine Inspirationsquelle und erst in Form von Lyrics fühlte er seine Erfahrungen widergespiegelt. Heute schreibt er die Bücher, die er sich damals gewünscht hätte. Nicht einmal eine Stunde dauert die Lektüre seines Buches, in dem er jedes einzelne Wort überlegt platziert hat. Der Fahrstuhl als Schauplatz repräsentiert die Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen, in dem die Zeit auszusetzen scheint. Zwar hat man die Kontrolle darüber, wohin man fährt, aber nicht mit wem oder wie lange. Reynolds verfolgt die Frage, was in den Köpfen von Kindern und Jugendlichen vorgeht, die in ihrer Wut und Trauer den einzigen Ausweg darin sehen, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Ein sehr beeindruckendes und mitreißendes Buch eines unglaublich authentischen Autors!

Lost in Translation

Für großes Publikumsinteresse sorgte eine Veranstaltung, in der Didier Eribon über seine wichtigsten intellektuellen Einflüsse und theoretischen Inspirationen sprach. Diese fasst er im Begriff der Sentimenthek zusammen, die er als Bibliothek von Büchern umschreibt, in denen man sich mental wiederfinden kann und die bestimmte Affekte bei (Gruppen von) Leser*innen hervorrufen. Wichtig ist ihm auch die Großzügigkeit im Schreiben. Darunter versteht er Autor*innen, die ein bestimmtes Publikum ansprechen wollen, um eine kollektive Veränderung einer Situation zu erreichen. Für ihn gehören in diese Sentimenthek der großzügigen Autoren Simone de Beauvoir („Was ich heute geworden bin, verdanke ich Simone de Beauvoir“), sein langjähriger Freund Pierre Bourdieu („Bourdieu ist ein Autor, der mein Leben gerettet hat“), Michel Foucault oder Paul Sartre.

Eribon berichtete davon, wie die Lektüre dieser Autor*innen sein eigenes Schreiben und seine Haltung gegenüber der französischen Gesellschaft beeinflusste. Sein bekanntes Werk Rückkehr nach Reims sieht er nicht als autobiografischen Roman, sondern als Buch über die gelesenen Theorien anderer Autor*innen, das in seinem Leben verankert ist. Gleichzeitig äußerte er Kritik an seinen Vorbildern und beschrieb, wie er ihre Gedanken fortführt und weiterdenkt, indem er über alle Aspekte von Identität schreibt. Zuletzt betont er die Rolle von Intellektuellen, die sich engagieren und einen Rechtsruck in Europa verhindern müssen.

Obwohl die Veranstaltung sehr gut von Tania Martini moderiert wurde, war es doch eine der schwächsten Veranstaltungen, die ich besucht habe. Dies lag an der schlechten Vorbereitung und den scheinbar mangelnden Sprachkenntnissen des Dolmetschers, durch den das Gespräch immer wieder ins Stocken geriet und Eribon daran hinderte, seine Gedanken auszuführen. So blieben die Ausführungen teils sehr oberflächlich. Ein echter Fall von „Lost in Translation“ – schade!

Späte Würdigung einer rastlosen Autorin
Lucia Berlin © Theresa Feldhaus

Zu meinen persönlichen Highlights in diesem Jahr gehörte die Erinnerung an die im Jahr 2004 verstorbene Autorin Lucia Berlin. Ihre beeindruckenden Kurzgeschichten wurden in den vergangenen Jahren wiederentdeckt. In der gemütlichen Atmosphäre des Kaminzimmers im Literaturhaus hat ihre Übersetzerin Antje Rávic Strubel mithilfe von Videomaterial, Fotos und Tonaufnahmen spannende Einblicke in die Biografie der Autorin gegeben. Außerdem berichtete sie von den Schwierigkeiten, die der dunkle Humor und die vielen Wortspiele Berlins ihr bei der Übersetzung bereitet haben. Als eigenen Anspruch an den Abend formulierte Antje Rávic Strubel den endgültigen Beweis, dass Lucia Berlin zur Weltliteratur gehört – und zeigte dies auf unterhaltsame Weise anhand des Cartoons „Behind every great novelist is…“ von Grant Snider aus der New York Times Book Review. Lucia Berlin erfüllt alle Kriterien Sniders, angefangen vom Kindheitstrauma bis hin zum loyalen Haustier, Episoden der Ausschweifung und vernachlässigten Partnern.

Lucia Berlin war eine Pendlerin, die sich nie lange an einem Ort aufgehalten hat und vielleicht gerade aus diesem Grund dem Ort für ihr Schreiben und ihre Figuren eine große Bedeutung zugeschrieben hat. Sie ist dem Stetigen stets ausgewichen und schaute mit dem Blick einer Unzugehörigen auf ihre Wohnorte von Alaska über Mexiko nach Texas oder Kalifornien. Mit 31 Jahren hatte sie bereits drei Männer hinter sich gelassen, in vielen unterschiedlichen Milieus und Kulturkreisen gelebt und unter der emotionalen Verwahrlosung durch ihre alkoholkranke Mutter gelitten. Ihr Schreiben ist eine Übersetzung des Autobiografischen in das Literarische, in dem sie gleichzeitig eine neue Form der Wirklichkeit schafft und sich von ihren persönlichen Dämonen distanziert. Es gelang ihr in einer Mischung aus Zynismus, Sprachwitz und selbstironischem Humor, aus emotional aufgeladenen Momenten und furchtbaren Erfahrungen eine Leichtigkeit in der Sprache zu erschaffen. Ihre Themen sind stets hart, aber ihr Blick ist es nicht.

All dies wurde sehr anschaulich im wunderbar vorbereiteten Vortrag von Antje Rávic Strubel vermittelt und anhand der mitreißenden Lesung von Naomi Krauss aus zwei Kurzgeschichten zum Ausdruck gebracht. Insgesamt war es ein sehr spannender Abend für alle Fans von Lucia Berlin (Ich glaube, ich habe mich in diesem Text eindeutig als eben solche geoutet) – und die, die es spätestens jetzt geworden sind.

Atemloser Ritt durch die amerikanische Prärie

Time was not something then we thought of as an item that possessed an ending, but something that would go on forever, all rested and stopped in that moment.“

Dass Sebastian Barry eine ausgeprägte Leidenschaft für Schauspiel und Dramatik hat, war schon nach wenigen Sätzen aus Days Without End offensichtlich. Der irische Schriftsteller erweckte seine Helden Thomas McNulty und John Cole in einer atemlosen, rhythmischen und leidenschaftlichen Lesung inklusive Gesangseinlage zum Leben. Seine Geschichte handelt von zwei jungen Männern, die an scheinbar endlosen Tagen Seite an Seite in den Indianerkriegen und im amerikanischen Bürgerkrieg kämpfen. Gemeinsam mit einem Mädchen der Sioux-Indianer gründen sie eine Familie, trotzen den Schrecken des Krieges. Barry erschafft ein atmosphärisch dichtes Porträt über das Leben in einer bedeutenden Zeit für die amerikanische Geschichte.

Nach der beeindruckenden Lesung aus dem Original hatte Schauspieler Denis Abrahams, der die deutsche Lesung übernahm, keine leichte Aufgabe. Doch er ließ sich vom Text und der gespannten Stimmung inspirieren und interpretierte den Text auf ebenso kraftvolle und mitreißende Weise. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen will, kann auf dem Youtube-Channel des Schauspielers zwei Ausschnitte dieses denkwürdigen Abends erleben.

Auf nächtlichen Abwegen

Gefallen hat mir auch die Idee der 3×8 Lesungen, mit denen man um 23 Uhr die Festivaltage ausklingen lassen konnte. An neun Abenden fanden im Restaurant Le Bar am Savignyplatz Late-Night Lesungen statt.  Je drei Autor*innen des Festivals lasen acht Minuten lang in ihren Muttersprachen aus aktuellen Romanen, Gedichten oder Essays. Ich habe hier einige Autor*innen erlebt, zu deren Veranstaltungen ich es am Tag nicht geschafft habe. In enger, aber gemütlicher Atmosphäre saßen die Gäste direkt neben den Autor*innen. So konnte ich einen Eindruck von ihrem Schreiben gewinnen, dem Klang einer anderen Sprache lauschen oder mit ihnen ins Gespräch kommen. Besonders in Erinnerung geblieben ist die witzige und zynische Lesung von Will Self. Der Brite beendete den zweiten Abend der Reihe mit einem Essay über seine Erfahrungen bei der Einreise in die USA. Mit einem Mitternachtssnack war man anschließend bestens für den nächsten Festivaltag gewappnet.

Theresa Feldhaus
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