Fehlende Worte und zerschossene Grammatik

Terry Pratchett hat Alzheimer, Wolfgang Herrndorf einen tödlichen Hirntumor. Beide Autoren leben mit dem Wissen, dass da etwas in ihrem Kopf ist, das ihnen langsam die Worte nimmt. Beide beschäftigen sich seither öffentlich mit dem Thema Sterben. Pratchett im Dokumentationsfilm „Choosing to Die“ und als Aktivist für Sterbehilfe, Herrndorf in seinem Blog „Arbeit und Stuktur“.

Wolfgang Herrndorf ist zum Zeitpunkt seiner Krebsdiagnose 44 Jahre alt. In seinem Kopf wächst ein Glioblastom. “Das ist etwas Gehirneigenes, das bildet keine großen Metastasen, wächst nur sehr schnell, läßt sich nicht endgültig bekämpfen und ist zu hundert Prozent tödlich“, schreibt er in seinem Blog.

Bei Terry Pratchett wird im Alter von 59 Jahren eine seltene, früh beginnende Art der Krankheit Alzheimer diagnostiziert. Der Fantasy-Autor veröffentlichte mit 13 sein erstes Werk und ist weltweit bekannt, nicht nur für seine Scheibenwelt-Romane. Herrndorf ist weniger berühmt, sein erfolgreichster Roman „Tschick“ zum Zeitpunkt der Diagnose noch unveröffentlicht. Beide stürzen sich in ihre Arbeit, auch wenn das Schreiben immer schwerer wird und niemand genau sagen kann, wie viel Zeit ihnen noch bleibt.

„Ich werde noch ein Buch schreiben, sage ich mir, egal wie lange ich noch habe, wenn ich noch einen Monat habe, schreibe ich eben jeden Tag ein Kapitel. Wenn ich drei Monate habe, wird es ordentlich durchgearbeitet, ein Jahr ist purer Luxus.“ (Herrndorf, Arbeit und Struktur)

Beruhend auf Ärzteaussagen, Google, Wikipedia und vielen Statistiken rechnet Herrndorf sein eigenes Todesdatum aus: „Der zwölfte August [2011] in meinem Kalender ist eingekastet, grabsteinförmig, mein Todestag … siebzehn Komma irgendwas Monate.“ Diesen Tag hat Herrndorf überlebt, heute um mehr als ein Jahr.

Für die meisten Menschen ist es eine grauenhafte Vorstellung zu wissen, wann sie sterben. Wird eine nicht zu heilende Krankheit diagnostiziert, kann es eine Erleichterung sein, den Zeitpunkt selbst bestimmen zu können. Terry Pratchett setzt sich seit seiner Alzheimerdiagnose für die Legalisierung der Sterbehilfe in Großbritannien ein. Jeder sollte das Recht haben in Würde zu gehen und das Ende selbst bestimmen zu können, findet er. In seiner BBC-Dokumentation „Choosing to Die“ begleitet er zwei kranke Briten, die sich für den Freitod in der Schweiz entschieden haben.

Die Dreharbeiten führen ihn zudem nach Belgien. Dort trifft er die Witwe des Künstlers und Autors Hugo Claus. Ebenfalls an Alzheimer leidend entscheidet sich der damals 78-jährige für Sterbehilfe. „Er fing an Worte zu verwechseln“, erzählt seine Frau. „Er bekam Angst, denn die Worte waren sein Geschäft.“ Sollte er Alzheimer haben, wollte er das nicht bis zum bitteren Ende mitmachen. Ein weiteres Buch wollte er zu Ende schreiben, dann sollte die Entscheidung fallen. Natürlich sind es die Bücher, die unfertige Arbeit, die einen Autor motivieren sich nicht aufzugeben.

„If you are working on a book, you keep going“,

sagt Pratchett.  Hugo Claus schaffte es nicht sein letztes Buch zu beenden. „Er hatte die Fähigkeit verloren“, erzählt seine Frau.

Wolfgang Herrndorf wurde nach seiner Krebsdiagnose zum Vielschreiber. Mit der Arbeit am Jungendroman „Tschick“ hatte er schon 2004 begonnen. Sechs Jahre später schreibt er ihn in Windeseile fertig. Es folgt der Roman „Sand“ und mehrere Preise, unter anderem der Jugendliteraturpreis. Da er zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus liegt, nimmt seine Lektorin ihn an. Als Antwort auf die Frage, ob der Preis im richtigen Moment kam, schreibt Herrndorf:

“Letztes Jahr als der Preis verliehen wurde, gab es Tschick noch nicht. Nächstes Jahr, wenn der Preis verliehen wird, wird es den Autor wahrscheinlich nicht mehr geben … insofern, ja, geradezu der ideale Moment.“ (Herrndorf, Arbeit und Struktur)

Erst nach den beiden Büchern verfasst Herrndorf sein Testament. Seit der Diagnose im Jahr 2010 schreibt er ein Blog. Unter dem Titel „Arbeit und Struktur“ dokumentiert Herrndorf das Fortschreiten seiner Krankheit, die drei Hirn-OPs, die beiden Aufenthalte in einer Nervenklinik. Detailliert berichtet er von Strahlen- und Chemotherapie und von der Dosierung seiner Medikamente. Er erzählt von der Arbeit an den Romanen „Tchick“ und „Sand“, schreibt über das, was er gerade liest, über seine Träume, Kindheitserinnerungen, sein Leben und seine Gedanken über den Tod.

„Seit geraumer Zeit schon läuft meine Empathie auf seltsamer Spur. Früher irgendwann hatte ich mir mal vorgestellt, der nahe Tod würde möglicherweise Haß auslösen, Haß auf die Welt, Neid auf die Überlebenden, vielleicht sogar den Wunsch, noch einmal Amok zu laufen und möglichst viele mitzunehmen. Tatsächlich hatte ich mal einen Text in diesem Sinne angefangen. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Ich kann kein Käferlein mehr im Hausflur entdecken, ohne es auf den Finger zu nehmen und draußen auf einen Grashalm zu setzen.

Zur gleichen Zeit durchströmt mich diffuses Glücksgefühl, wenn eine Boulevardschlagzeile den Tod eines im Eis ertrunkenen Zweijährigen vermeldet. Es dauert ein paar Sekunden, bis mir einfällt, wie schlimm es für die Eltern ist. Aber für das Kind ist es das Beste.

Den oft und vermutlich zurecht kritisierten Satz, das Leben sei der Güter höchstes nicht, ich würde ihn jetzt unterschreiben. Was ist das größte Glück? Bewußtlos sterben ist das größte Glück, und ein unauffällig in den Nacken gehaltenes Bolzenschußgerät entspricht diesem Glück sonderbarerweise genau.“ (Herrndorf, Arbeit und Struktur)

Da es nicht jedem vergönnt ist, bewusstlos zu sterben, entscheiden sich manchen Menschen für Sterbehilfe. So auch Hugo Claus. Seit 2002 ist dies in Belgien legal. Vier Jahre später wird Claus von seiner Frau ins Krankehaus begleitet, in der Hand eine Flasche Sekt. Er raucht eine letzte Zigarette, sie legt sich neben ihn, die beiden singen. „Er starb singend“, erzählt seine Frau im Film.

Zehn bis fünfzehn Minuten liegen zwischen der Einnahme der giftigen Flüssigkeit und dem Tod. Der Patient schläft ein, die Atmung stoppt, dann das Herz. Es müssen zwei verschiedene Flüssigkeiten getrunken werden. Die erste hilft die zweite, tödliche im Körper zu halten. „Trinken Sie alles auf einmal“, sagt eine Schweizer Ärztin in Pratchetts Dokumentation. „Wenn Sie es Schluck für Schluck trinken, schlafen Sie nur ein und es wird Sie nicht umbringen.“

Der sehr bewegende Film zeigt auch das Gespräch zwischen Pratchett und der Ärztin über seinen eigenen Tod. Er möchte wissen, was sie für ihn tun kann. Das Problem mit Alzheimer im Endstadium ist, dass der Patient nicht mehr klar denken kann. Pratchett fragt, was passiert, wenn er selber keine Entscheidung mehr treffen kann, sich aber trotzdem wünscht dieses Getränk zu sich zu nehmen, wenn die Zeit gekommen ist. „Man müsste es Ihnen injizieren und das würde ich nicht machen“, sagt die Ärztin. „Ich gebe dem Menschen die Flüssigkeit und er selbst entscheidet, ob er sie zu sich nimmt. Es ist etwas anderes, wenn ich es injiziere. Das kann ich nicht machen.“ Die Konsequenz, die Pratchett aus dem Gespräch zieht ist, dass man als Alzheimerpatient die Sterbehilfe wohl früher in Anspruch nehmen muss als nötig, nämlich dann, wenn man noch bei klarem Verstand ist.

„Hast du eine Millionen schöne Erinnerungen?“, fragt er in seinem Film einen Patienten. „Ich nicht“, sagt er dann. „Sie verschwinden alle.“ Auch Herrndorf schreibt, dass er oft das Gefühl habe, alle positiven Gedanken würden nachts von seiner Festplatte gelöscht werden. Sein Blog zu lesen ist gleichzeitig schön und traurig. Herrndorf findet die richtigen Worte, er schreibt ehrlich und bringt seine Leser zum Nachdenken. „Es beginnt: Das Leben in der Gegenwart”, schreibt er zum Beispiel. Seinen plötzlichen Erfolg und den steigenden Kontostand kommentiert er wie folgt:

„Gerade werden die Filmrechte verhandelt. Und das ist vielleicht der Punkt, wo ich dann doch so eine Art von Ressentiment empfinde: 25 Jahre am Existenzminimum rumgekrebst und gehofft, einmal eine 2-Zimmer-Wohnung mit Ausblick zu haben. Jetzt könnte ich sechsstellige Summen verdienen, und es gibt nichts, was mir egaler wäre. (Herrndorf, Arbeit und Struktur)

Die Bestseller-Autoren Pratchett und Herrndorf können beide nicht mehr problemlos schreiben. Pratchett nutzt eine Spracherkennungssoftware und diktiert die Worte seinem Assistenten. Herrndorf leidet an Seh- und Konzentrationsstörungen, schreibt „zerschossene Grammatik“ und hat mit epileptischen Anfällen zu kämpfen. In seinem letzten Blogeintrag Mitte Juli ist zu lesen: „Man kann nicht leben ohne Hoffnung, schrieb ich hier vor einiger Zeit, ich habe mich geirrt. Schwer in den Knochen steckengeblieben hauptsächlich das Erlebnis, nicht mehr tippen zu können. Sprachsoftware fürs nächste Mal bestellt.“

Für die Schriftsteller ist klar, dass der Verlust der Kommunikation für sie das Ende einer lebenswerten Existenz bedeuten würde. Für Pratchett ist dieser Punkt gekommen sobald er nicht mehr diktieren kann, wenn er kein Schriftsteller mehr sein kann. Das sagt er in die Kamera. Und auch in Herrndorfs Patientenverfügung steht:

„Unter Leben verstehe ich ein schmerzfreies Leben mit der Möglichkeit zur Kommunikation.“ (Herrndorf, Arbeit und Struktur)

Sowohl in Herrndorfs Blog, als auch in Pratchetts Film scheint es, die beiden hätten ihr Schicksal akzeptiert. Sie bereiten sich vor, auf das was kommt, misten Wohnungen aus, planen, äußern Wünsche oder werden – wie in Pratchetts Fall – sogar zum Aktivisten. Sie beschäftigen sich öffentlich mit einem Thema, das die meisten von uns gerne verdrängen, obwohl es jeden irgendwann betrifft. „Ich möchte draußen in der Sonne sterben“, sagt Pratchett und obwohl er gerne erleben würde wie das Verbot der Sterbehilfe in Großbritannien aufgehoben wird, fügt er hinzu: „Und ich wette, die scheint auch in der Schweiz.“

Empfehlungen und Quellen dieses Artikels:

Der Blog  „Arbeit und Struktur“

Der Dokumentarfilm „Choosing to Die“

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