
In Italien bloggt ein gefrusteter Lektor aus dem Nähkästchen.
Es ist bewunderns- und auch ein bisschen beneidenswert. Der Blick ins Ausland zeigt: Literatur kann auch im Internet ein polarisierendes Thema sein. Der Freitag berichtete kürzlich über den französischen Literatur-Blogger Pierre Assouline, dessen Beiträge auf dem Blog „La république des livres“ oft mehrere hundert Kommentare hervorrufen. Ein großer Provokateur sei er, und es ist diese Art des Schreibens, die sich auch in Italien als Erfolgsrezept herausgestellt hat.
Es begann alles Ende April auf dem Blog mit dem besagenden Titel „La vera editoria“ („das wahre Verlagswesen“): Unter dem Schutzmantel der Anonymität schreibt dort ein angeblicher Insider, laut Selbstbeschreibung Lektor fortgeschrittenen Alters mit langjähriger Erfahrung in bekannten Verlagshäusern. Als selbstständiger Talentscout hat er dem Literaturbetrieb zwar noch nicht den Rücken gekehrt, doch die Mechanismen hat er gehörig satt – weshalb er nun virtuell „Dampf ablassen” muss.
Mit den Worten „Ich habe die Nase voll“ begann er sein Blog und was innerhalb von zwei Monaten folgte, ist eine Anklage. Mit seinem launigen und nicht immer höflichen Tonfall erregte der anonyme Schreiber innerhalb kürzester Zeit die Aufmerksamkeit von Buchbranche und Blogosphäre: Kein gutes Haar lässt er an den großen Verlagshäusern, sei es wegen schlechter Bücher, geschönter Verkaufszahlen, allzu engen Genre-Grenzen oder dem nichtvorhandenen Willen, in Talente zu investieren. Auffallend oft stellt er sich auf die Seite des schriftstellerischen Nachwuchses, den er vor Ausbeutung warnen will. Seine Texte sind ein Lamento über Marketingoffensiven, über Agenturen und Ghostwriter, die im Stillen schlechte, aber bekannte Autoren passabel und emotionale Geschichten literarisch salonfähig machen. Genervt von „Enthüllungsromanen“ und (Natur-) Katastrophenliteratur, darf – fast klischeehaft italienisch – auch die Anklage der Vetternwirtschaft nicht fehlen.
„Verleger teilen ihr Programm in Spitzentitel (A-Romane) und B-Romane ein. Die Spitzentitel…
- wurden über eine Literaturagentur eingekauft
- sind tatsächlich gute Romane
- waren sehr teuer und müssen einen guten Ertrag einbringen
- wurden von Freunden, Verwandten, Chefs, Tanten (ja, auch das kommt vor) “empfohlen“
Alle anderen sind B-Romane. Die Autoren müssen oft monatelang, wenn nicht Jahre, warten, bevor sie einen Vertrag unterschreiben und dann warten sie weitere Monate, wenn nicht Jahre, bevor sie in den Buchhandlungen auftauchen. Normalweise verweigert man niemandem ein Basislektorat, aber auch das kommt vor. Mich überrascht das ebenso wie euch, auch weil es in einem großen Verlagshaus passiert ist. Aber der Grund ist naheliegend. Tatsächlich kommt es vor, dass ein Roman nur so lange als wichtig erachtet wird, bis ein anderer verlockender erscheint. Wenn das passiert, schenkt man dem zweiten seine Aufmerksamkeit.
[…]
In 80% der Fälle verkaufen sich die Spitzentitel gut. Die anderen 20% verkaufen sich gut, allerdings unter den Erwartungen des Verlages. Die restlichen Titel aus dem Programm werden hingegen dem Vergessen preisgegeben, man drückt die Daumen und wirft sie auf den Markt. Sie verkaufen sich? Gut. Sie verkaufen sich nicht? Geduld.” (aus dem Beitrag vom 22.05.2010)
Nach nur wenigen Beiträgen des Anonymus war bereits in der Repubblica von „La vera editoria“ die Rede und es dauerte wiederum nicht lange, bis der Autor bekanntgab, von nun an leisere Töne von sich geben zu wollen. Er muss in seinem Umfeld erkannt worden sein, spekuliert die Community.
All dies geschieht wohlgemerkt, obwohl auf dem Blog weder die ganz großen Skandale enthüllt noch Namen genannt werden. Für Laien in Sachen Literaturbetrieb mögen die Beiträge dennoch die eine oder andere Seifenblase zum Platzen gebracht haben. Dies zeigt sich deutlich in den Leserkommentaren: Es wird nachgefragt, diskutiert, gestritten, spekuliert. Auch über den Autor selbst. Dessen Anonymität und Anspielungen sind geradezu eine Aufforderung zu Zweifel und Skepsis. Der literarische Kniff, sich selbst zu fiktionalisieren ist natürlich nicht neu, doch auf dem Blog polarisiert er ungemein – und provoziert den Leser: Ist etwa alles nur Fake?
Es sei dahingestellt. Fest steht, dass der anonyme Lektor eine für Literaturthemen unübliche Resonanz erfährt: Jungautoren erhoffen sich Ratschläge über Manuskripteinsendungen, ein gekränkter Fantasy-Schriftsteller meldet sich persönlich zu Wort. Viele andere Blogger beziehen Stellung, rufen wiederum Reaktionen hervor.
Und hierzulande? Internet und Literatur wollen zumindest in der öffentlichen Wahnehmung nicht so recht zusammenpassen. Provokation, subjektive Standpunkte und offene Einladungen zur Diskussion werden, insbesondere bei literarischen Themen, schnell als unqualifiziert wahrgenommen.
Derart angegriffen wurde unser Verlagswesen bisher nicht. Ob das gerechtfertigt ist, oder ob auch wir uns eines Tages frustriert und auch ein bisschen angeekelt vom Betrieb abwenden werden?
Um es mit den Worten des anonymen Lektors zu sagen: „La parola a voi“ – „Ihr habt das Wort“.
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