Nullerjahre

Über seinen Text wird schon seit dem Jahr 2017 diskutiert: der Autor Aleksej Sal’nikov portraitierte eine Familie aus seiner Stadt Jekaterinburg. Auf Deutsch ist dieses Buch bislang noch nicht erschienen. 

Petrovy v grippe i vokrug nego – Aleksej Sal’nikovs Roman. Foto Meri Melkonyan

von Meri Melkonyan

Der bis vor zwei Jahren noch völlig unbekannte Autor Aleksej Sal’nikov ist momentan auf einer Tour durch ganz Russland. Ursprünglich ein aus Jekaterinburg stammender Heizhausarbeiter, hatte er sich zwar früher schon als Dichter versucht, wurde aber erst mit seinem dritten Roman Petrovy v grippe i vokrug nego (Pertovs in der Grippe und um sie herum) bekannt. Dieses Werk wurde im Jahr 2017 und dann noch einmal 2019 vom renommierten russischen Verlag‚ Redakcija Eleny Šubinoj‘ herausgegeben. Der Roman wurde für den Preis ‚Nacional’nyj Bestseller‘ nominiert und war Finalist bei den Literaturpreiswettbewerben ‚Bol’šaja Kniga‘ und ‚NOS‘. Trotz seines Erfolges wurde das Buch bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt. 

Um die Handlung herum

Im Roman wird das vorweihnachtliche Leben einer Jekaterinburger Familie dargestellt. Alles beginnt damit, dass sich der Automechaniker Petrov vor dem Neujahrsfest eine schwere Erkältung zuzieht. Er bemerkt die Krankheit im Bus von der Arbeit nach Hause. Petrov sieht zufällig seinen Bekannten Igor vom Bus aus und trotz seiner Erkältung stürzen sie sich in ein Abenteuer. Während Petrov mit Igor zum Feiern fährt, hat seine Frau Petrova gerade ihre Arbeitsschicht in der Bibliothek beendet. Im Haus zieht sie sich ebenfalls eine Grippe zu, dadurch verschlimmert sich auch ihr psychischer Zustand: Schon seit ihrer Jugend weckt ihre Störung in ihr eine unkontrollierbare Aggression. Jetzt, auf dem Höhepunkt der Krankheit, verspürt sie das Bedürfnis, irgendjemanden zu „schlachten“. Am nächsten Tag erfährt Petrova, dass auch ihr überängstlicher Sohn an einer Grippe leidet und so zeigen sich kurz vor Sylvester all die unterdrückten Probleme der Familie.  

Jedes einzelne Familienmitglied der Petrovs ist in gewisser Weise seltsam. Petrova nennt ihre psychische Erkrankung „eine kalte Spirale im Bauch“. Wenn diese Spirale wächst, hat sie einen unkontrollierbaren Wunsch, jemanden zu töten. Wahrscheinlich hat sie schon viele „erledigt“, denn sie „erinnert sich nicht mehr daran, wie viele es waren“. Nicht nur Petrova, sondern auch die anderen Familienmitglieder haben ihre eigenen bizarren Geheimnisse. „Der kleine Petrov“ hat Angst vor dem Klo, weil „dieser Raum stark nach Eltern gerochen hat“. Der alte Petrov erinnert er an den Protagonisten Merso aus Albert Camus‘ Roman „Der Fremde“:  seit seiner Kindheit kennt er weder Ehrgeiz noch hegt er liebevolle Gefühle für seine Verwandten. Jedes einzelne Familienmitglied der Petrovs hat also etwas zu verheimlichen, zusammen aber leben sie ein eintöniges häusliches Leben.

Sal’nikov selbst hat im Interview mit ‚RTVI‘ über sein Werk gesagt: „Jeder von ihnen ist völlig verrückt. Aber wenn sie zusammen sind, verwandeln sie sich in normale Leute“

Aleksej Sal’nikov. Foto Kirill Didjukhin

Um die Sprache herum

Hier und nicht im Sujet liegt die Antwort, warum dieses Buch so fesselnd ist. Der Sprachstil des Buches wurde in Russland von den einen stark kritisiert und von anderen sehr gelobt. Klar ist, dass die Auffälligkeit der Sprache bereits im Titel markiert wird: Dieser ergibt auch für Muttersprachler keinen Sinn. ‚Petrovs in der Grippe‘ ist eine syntaktisch regelwidrige und semantisch unklare Formulierung, ebenso mit ‚um sie herum‘. Der Sprachstil des Textes ergibt trotzdem einen guten Einblick in russischsprachige Prosa. 

In der Narration werden ungewöhnliche Metaphern und Vergleiche benutzt, die jedoch die Zeit des Romans, die Nullerjahre, klar dekodieren lassen. Marina, die der kleine Petrov vom Schulkarneval als Schneeweißchen kennt, beschreibt ihren Freund so:

Er war schrill aber genau wie Plastik, das damals an allen Ecken und Enden war

Tatsächlich galt Plastik in Russland während der Nullerjahre als sehr trendy und war überall zu finden. Mit seinen auffälligen Farbtönen fiel es ins Auge, wurde in der Masse aber schnell zur Gewohnheit. Ebenso schätzt Marina Petrov junior ein: auffällig, bunt, aber als einen von vielen.  

Auch anhand einer Szene in der Straßenbahn lassen sich die Nullerjahre in Salnikovs Roman identifizieren: „Die Wagenbegleiterin war schon mit vielen Personen gleich in die Wolle geraten und erinnerte ein wenig an den Shredder von ‚Ninja Turtles‘ “. Diese amerikanische Comicserie war zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts in Russland populär. Viele Kinder warteten vor dem Fernseher fieberhaft auf die nächste Folge. 

Es sind die Details der Erzählung, diese Metaphern und Vergleiche, denen dieses Werk seinen Erfolg verdankt. Sie zu übersetzen, wäre eine große Herausforderung. Denn während das russische Publikum mit den spezifischen Merkmalen der postsowjetischen Nullerjahre gut vertraut ist, wecken diese beim deutschen Leser andere Assoziationen oder Erinnerungen. Ein Beispiel dafür ist etwa die lange Passage, in der die Medikamente beschrieben werden, die sich in Russland in jedem Haus befanden (und wahrscheinlich bis heute befinden):

Die Petrovs griffen ins Apothekenschränkchen und fingen an, nach Aspirin zu suchen. Sie hatten die Erwartung, dass darin noch etwas aus lang vergangener Zeit, von den Eltern Petrovs, übrig geblieben sein könnte. In der Dose waren Senfpflaster, Brillantgrün, Kaliumpermanganat, das für den kleinen Petrov benutzt wurde, wenn er baden musste, das von den Eltern übrig gelassene Jod, das niemand mehr brauchte

Wahrscheinlich baut diese lange Passage beim russischen Leser eine emotionale Verbindung auf, da sofort eine Erinnerung an die typische Apotheke wachgerufen wird. 

Trotz der Herausforderungen, mit denen eine Übersetzung konfrontiert wäre – einen Versuch wäre es wert: der Roman nimmt nicht nur einen besonderen Platz in der heutigen russischen Literatur ein, ermöglicht es auch die postsowjetische Kultur zu entdecken. 

* Die Übersetzungen stammen von der Verfasserin

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