Sitzen Verdi und Bach am Tisch und spielen Poker….

Leichte Kost, die ein paar Kohlenhydrate vertragen würde – Paul Austers „Die Musik des Zufalls“ ist ein Roman, der vom Zocken und dem Haken schlagenden Leben handelt.

von Sophia Berger

© Sophia Berger

Es war Zufall, der den kleinen Roman von Paul Auster in meine Hände legte. In einem Second-Hand-Buchladen an der Prenzlauer Allee hielt ich in verstaubten Bücherstapeln nach Romanen der Schriftstellerin Siri Hustvedt Ausschau. „Wenn Sie Siri Hustvedt mögen, dann müssen Sie unbedingt auch ihren Mann lesen“, meinte der Buchhändler und erschien kurz darauf aus den Tiefen seines Ladens mit einer alten Ausgabe von Musik des Zufalls, original im Jahre 1990 bei Viking/Penguin Inc., New York und 1992 in der deutschen Übersetzung von Werner Schmitz bei Rowohlt erschienen. 

Noch während des Durchblätterns tauchte ein alter Kassenzettel zwischen den Seiten auf. Anscheinend wurde meine Ausgabe das erste Mal im Jahr 1997 in einem bekannten Buchhandel meiner Heimatstadt erworben, 500 Kilometer von Berlin entfernt.

Es war eine jener rein zufälligen Begegnungen, die sich aus heiterem Himmel zu ergeben scheinen – wie, wenn einem plötzlich ein vom Wind gebrochener Zweig vor die Füße fällt.

So beginnt der Roman des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster: Mit dem Zufall. Dieser legt dem alleinerziehenden Feuerwehrmann Jim Nashe jedoch kein altes Buch, sondern zweihunderttausend Dollar in die Hände. Das Geld stammt ausgerechnet von seinem Vater, der ihn als Kind verstoßen hatte und nun überraschend gestorben war. Was macht man also mit zweihunderttausend Dollar, die einem zufällig in die Hände fallen? Natürlich, Geld kauft Freiheit. Von einer plötzlichen Eingebung erfasst, löst der Protagonist sein Leben in Boston auf, kündigt Wohnung und Job, lässt seine Tochter bei Verwandten zurück und fährt mit seinem Auto quer durch Amerika. (Freiheit, ein A*** zu sein?!)

“Dear Lord, help me to break even. I need the money.”

Geschwindigkeit war das Wesentliche; das Vergnügen im Auto zu sitzen und immer vorwärts durch den Raum zu jagen. […] Nichts um ihn währte länger als einen Augenblick, und da ein Augenblick auf den anderen folgte, schien er selbst das Einzige, was weiterexistierte. Er war ein Fixpunkt in einem Wirbel von Veränderungen, ein Körper, der vollkommen stillstand, während die Welt durch ihn hindurchstürzte.

Während Jim Nashe seine neu gewonnene existenzialistische Lebensweise – untermalt von den Klängen Mozarts, Verdis und Bachs – genießt, taucht auf einmal der bankrotte Zocker Jack (Jackpott) Pozzi am Straßenrand auf.  Gutes Timing, denn Nashe nagt an seinen letzten Talern und lebt in ständiger Angst wieder in sein „normales“ Leben zurückkehren zu müssen. Daher sieht er Pozzis Spiellust als letzte Gelegenheit, seinen Ausflug in die anscheinend entspannende Bedeutungslosigkeit zu verlängern. Doch trotz guter Chancen verspielen Pozzi und Nashe im Haus eines exzentrischen Brüderpaars den Rest des Erbes. Während sich der Roman immer mehr im magischen Realismus verliert, landet Jim Nashe auf dem harten Boden der Realität – um wieder auf null zu kommen, müssen Pozzi und Nashe den reichen Brüdern im Schloss zur Hand gehen. 

Eine literarische Pokerpartie 

Ganz klar – dieser Roman möchte uns etwas über das Leben beibringen. Zu offensichtlich ist das Motiv des Zufalls, der Egoismus des zu leichten Geldes gekommenen Protagonisten und dessen schwerer Fall. Ist man davon beim Lesen nicht sofort genervt, so lohnt es sich vielleicht, hinter die Fassade dieser oberflächlich moralisierenden Geschichte zu blicken. 

Wie auch Dostojewksis Der Spieler stellt der Roman eine literarische Pokerpartie dar. Das Leitmotiv des Spiels soll zeigen, dass das Leben nicht geradlinig läuft, sondern Haken schlägt – (Achtung, Spoiler!) am Ende jedoch immer das Unvermeidbare passiert. Und auch wenn man Die Musik des Zufalls nicht mit einem Dostojewski vergleichen kann, so sind die Absurdität und Unvorhersehbarkeit des Inhalts erstaunlich. Besonders kafkaesk wird es im zweiten Teil des Romans: Die Milliardärsbrüder Flower und Stone, der eine ein akribischer Sammler historischen Strandguts, der andere besessen von dem Bau einer Miniaturstadt, zwingen Pozzi und Nashe ihre Spielschulden durch die Errichtung einer Mauer abzuarbeiten. Dabei dienen unter anderem die Vorliebe zu Wackelpudding und Hamburgern zur Darstellung ihrer Skurrilität und Kindlichkeit. 

Die Mauer wird ein Denkmal ihrer selbst sein, Gentleman, eine Symphonie aus wiederbelebten Steinen, und täglich wird sie ein Klagelied auf die Vergangenheit singen, die wir in uns tragen.

Hmm, na ja. 

Wenn man möchte, findet man jedoch tatsächlich etwas Tiefgründiges in diesem 254 Seiten langen Roman: Selbst in einem Auto, „einem Heiligtum der Unverletzlichkeit“, ist man nicht gefeit von der Tatsache, dass die eigene Identität nur ein Konstrukt ist, welche jederzeit durch äußere Einflüsse verändert werden kann. Diese Interpretationsmöglichkeit ist allerdings freiwillig und sollte definitiv nicht dazu beitragen, den Roman als Pflichtlektüre einzuführen. Im Laufe des Romans wünscht man sich zeitweise eher, dass das ziellos herumirrende Auto ein wenig früher zum Halt gekommen wäre. 

Tatsächlich hat der Roman bei Erscheinen in den 1990ern überwiegend positive Kritiken bekommen. Der Spiegel schreibt, Paul Auster sei ein Autor, „der sich darauf versteht, mit erzählerischer Intelligenz Verwirrung zu stiften, um sie aufs pfiffigste wieder aufzulösen.“ Aus heutiger Sicht wage ich zu widersprechen. Verwirrung? Ja. Mit erzählerischer Intelligenz gestiftet? Meinetwegen. Aber eine Auflösung dieser? Leider nein.

Letztendlich kann man dieses Buch unmöglich schlecht oder gut finden. Hat es einen der Zufall in die Hände gelegt, dann auf jeden Fall lesen! Wenn nicht, dann ist es auch in Ordnung. 

Paul Auster – Die Musik des Zufalls, 1992 veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag

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