Jan Bachmann „Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen“ (Edition Moderne 2018) © Angie Martiens

From Panels With Love #11: Erich Mühsam als Comicfigur

Erich Mühsam: Bohemien, Anarchist, Dichter, Publizist und politischer Kämpfer. Eine markante und kantige Figur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die das erste gegenkulturelle Milieu Europas maßgeblich prägte – jenes Milieu, auf dem unser heutiger Fetisch für das Alternativkulturelle fußt. Jan Bachmann hat sich in Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen diesem Charakter genähert und gibt einen kurzen, anregenden Einblick in Erich Mühsams Leben und Denken. Der Comic im Tagebuchstil, der auf Mühsams originalen Tagebüchern basiert, wurde 2017 mit dem Comic-Förderpreis der Schweizer Städte ausgezeichnet.

Jan Bachmann „Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen“ (Edition Moderne 2018) © Angie Martiens
Jan Bachmann „Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen“ (Edition Moderne 2018) © Angie Martiens

 

Erich Mühsams Tagebücher, die zwischen 1910 und 1924 entstanden sind, strotzen vor Selbstironie, bissiger Gesellschaftskritik und sarkastischer Weltsicht. Durch ihren Humor sowie einen direkten und saloppen Ausdruck lesen sie sich auch heute noch wunderbar amüsant. Der Comic trifft diesen Ton der Tagebücher sehr gelungen – zum einen da der Erzähltext aus direkten Zitaten aus den Tagebüchern besteht, zum anderen weil die Tagebücher dem Comic nicht nur als inhaltliche Referenz sondern auch als formaler Rahmen dienen, indem die Kapitel hier datierte Tagebucheinträge darstellen.

 

Das Füllen offener Räume
Jan Bachmann „Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen“ (Edition Moderne 2018) © Edition Moderne
Mühsam zur Kur im Château-d’Œx © Edition Moderne

Mühsams Tagebücher geben viel Aufschluss über seine Gedankenwelt, halten sich im Falle konkreter Ereignisse jedoch eher bedeckt – im Übrigen macht gerade dies ihre Lektüre unterhaltsam, da stets so viel erzählt wird, dass die Leser*innen folgen können und doch so wenig, dass vieles rätselhaft bleibt und man zu phantasieren beginnt. Diese offenen Räume hat auch Bachmann gefüllt, indem er Situationen und Dialoge parallel zum originalgetreuen Erzähltext imaginiert. Dabei gelingt es ihm, Szenerien und Gespräche zu schaffen, die sehr nahe am Gestus der Tagebücher liegen und zudem so vielsagend sind, dass sie Mühsam auf wenigen Seiten treffend zu charakterisieren vermögen. Mühsam … Einer, der auf ein freundliches „Grüss Gott!“ wohl nur ein „Ni dieu ni maître“ zu entgegnen gewusst hätte. Einer, dessen kritisch-intellektuelle Bewertung von Ferdinand Hodlers symbolistischen Gemälden wohl auf ein „Sexy!“ oder „Schicker Kaputzenpulli!“ hinausgelaufen wäre. Einer, der sich wohl einfach einen halben Rettich gekauft hätte, wenn er nur noch 30 Pfennige zum Leben hat, ein Rettich aber 50 Pfennige kostet.

 

Der Ton der Boheme
Jan Bachmann „Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen“ (Edition Moderne 2018) © Edition Moderne
Das finanzielle Leid des Bohemiens © Edition Moderne

Es speiste sich Erich Mühsams ironischer, scharfer und sarkastischer Ton zweifelsohne aus seiner Lebenslage. Das Dasein als Künstler und Intellektueller, der ausgeprägte Hang zu alkoholischen und nikotinhaltigen Freuden sowie die starke Solidarität innerhalb der kleinen Bohemien-Kreise, die das ständige Verleihen und Verschenken von Geld einschloss, brachten die historischen Bohemien*nes in dauernde finanzielle Nöte. Diese Nöte erzeugten in Verbindung mit der Rolle als soziale Außenseiter*innen eine Haltung der Dissidenz, des Trotzes und der gleichzeitigen Egozentrik. Diese Mischung schuf den Mythos der Boheme als personifiziertem Größenwahnsinn, das Bild der Bohemien*nes als abgehobene Egozentriker*innen.

 

Sechs Wochen Mühsam

Das Bild, das Jan Bachmann von Erich Mühsam zeichnet, ist mit Nichten das eines abgehobenen Egozentrikers. Es ist stiller. Es zeigt einen Mann, der von den finanziellen Zuschüssen seiner bürgerlichen Familie abhängig ist und daher deren Willen folgen muss. Ein erwachsener Mann, der sich für eine Kur ins Sanatorium begeben muss, weil seine Brüder es verlangen, der von seiner Familie Abstinenz verordnet bekommt, und der auf Verlangen der Familie eine Münchner Pension beziehen muss. Dieses sehr spezifische und nicht unbedingt gängige Bild, das hier von Mühsam entsteht, speist sich aus dem Umstand, dass im Comic lediglich die Lebensphase zwischen Ende August und Anfang Oktober 1910, also von gerade einmal etwa anderthalb Monaten, erzählt wird. Es ließe sich kritisieren, dass der Titel Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen einen umfassenderen Anspruch suggeriert, den die inhaltlich Beschränkung auf sechs Wochen im Leben Mühsams nicht erfüllen kann. Immerhin räumt Bachmann im Nachwort ein, dass es sich hier eher um einen jungen Mühsam handelt, und verweist auf die Grenzen des Comics. Im gleichen Zuge empfiehlt er für einen tieferen Einblick die auf fünfzehn Bände hin angelegte Publikation von Mühsams Tagebüchern im Verbrecher Verlag. Seit 2011 gibt der Verbrecher Verlag die von Mühsam zwischen 1910 und 1924 geschriebenen Tagebuchhefte in einer historisch-kritischen Edition heraus. Bislang sind 12 Bände der 15 geplanten Bände erschienen. Das Ergebnis ist auch in einem fantastischen Online-Archiv frei zugänglich.

 

Gelungener Stil, aber leicht missglückte Comicfigur

Eine zitterig-krakelige Linie, poppige Farbkontraste sowie eine vorherrschend ‚schmutzige‘ Farbgebung durch viel Grau und Braun: Die Gestaltung bildet ein zeitgenössisches Pendant zum Charakter Mühsams und des Bohemehaften. Nicht gerade glücklich gewählt ist jedoch die außerordentlich lange Nase als markantes Attribut für die Comicfigur des (jüdischen) Mühsams. Das rassistische Stereotyp einer langen und großen Nase als vermeintliches Kennzeichen von Juden* und Jüdinnen* wird unkommentiert reproduziert. Berücksichtigt werden muss hier sicherlich Bachmanns Erklärung im Nachwort, dass die visuelle Gestaltung der Figur an ein Selbstportrait angelehnt sei, welches karikaturartig einen Mühsam mit großen Ohren und langer Nase zeige. Diese Selbstzeichnung ist im Anhang auch abgebildet. Nun ist mir nicht bekannt, wie nahe Bachmann selbst dem Judentum steht, doch wäre es vielleicht ratsamer gewesen, ausgerechnet diesen äußerlichen Aspekt, der so stark in antisemitische Muster eingebunden ist, der Selbstdarstellung vorzubehalten und in einer Fremddarstellung andere Markierungen für Mühsam zu wählen.

 

Eine lesenswerte Hommage
Jan Bachmann „Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen“ (Edition Moderne 2018) © Edition Moderne
Mühsam: Ein leidlich netter Mensch © Edition Moderne

Angesichts seines verkannten literarischen Könnens hatte Erich Mühsam bereits zu Lebzeiten eine verdrossene – und natürlich selbstironische – Vorstellung seiner posthumen Rezeption: „Ich sehe schon meine Nekrologen: tausend »Bohême«-Anekdoten, Anarchist in Anführungsstrichen und »im übrigen nicht talentlos«.“[1] schrieb er im September 1910 ins Tagebuch. Bachmanns Bild von dem 1934 im Konzentrationslager Oranienburg von den Nationalsozialisten getöteten Andersdenker greift jene von Mühsam genannten Aspekte auf, überwindet aber den spöttelnden und einschränkenden Ansatz. Statt des prophezeiten Gestus des Nebensächlichen und Relativierenden nimmt der Comic seinen Protagonisten sehr ernst – offensichtlich hat Bachmann sich für ihn durchaus Zeit genommen. Anders als das Gros der derzeit boomenden biografischen Graphic Novels verfolgt der Comic Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen nicht das bloße Nacherzählen einer Lebensgeschichte mit allen wichtigen Stationen, sondern erzählt mittels fingierter Szenerien und Handlungen Wesentliches vom Denken und Charakter Mühsams.

 

Ausblick: Thementreu zum Monte Verità

Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen ist Jan Bachmanns Comicdebüt. Derzeit bleibt er der Thematik treu: Er arbeitet aktuell an einem Comic zum schweizerischen Monte Verità, jener alternativkulturellen Lebensreformer- und Boheme-Siedlung um die Jahrhundertwende. Auch Erich Mühsam war zeitweilig Gast des Monte Verità in Ascona. All jene, die die Geschichte der historischen Boheme als dem Ursprung europäischer Subkulturen ebenso brennend interessiert wie mich, dürfen also gespannt sein auf Bachmanns weitere Arbeiten.

 

Jan Bachmann: Mühsam. Anarchist in Anführungsstrichen
Edition Moderne, 2018
96 Seiten, farbig
19,- €

 

[1] Erich Mühsam: Tagebücher. Bd. 1. 19010–1911, Heft 1, Eintrag vom 11.09.1910. Hg. von Chris Hirte und Conrad Piens. Berlin: Verbrecher Verlag 2011, S. 48.

Angie Martiens
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4 Kommentare zu „From Panels With Love #11: Erich Mühsam als Comicfigur“

  1. Mühsam als Comicfigur? Das hat Erich Mühsam eigentlich nicht verdient selbst dann nicht wenn man berücksichtigt das in den alten Bundesländern eine gewisse Abneigung gegen den Dichter bestand/besteht (?) während in der dahingeschiedenen DDR seiner schon frühzeitig gedacht wurde. Insbesondere seine Gedichte für das Kabarett erfreuten sich einiger Bekanntheit und die späte Beschäftigung mit Mühsam in den alten Bundesländern mag damit zusammenhängen das der Dichter in seiner Biographie allzuviele rote Flecken aufzuweisen hat. Dabei sind seine Gedichte durchaus lesenswert und hin und wieder hat er echte Kabarettperlen geschrieben. Nun mag Bachmann ja durchaus ehrenwerte Absichten gehegt haben, allerdings sich einen durchaus begabten und ernst zunehmenden Dichter in der gewählten Form zu nähern halte ich für mindestens, bedenkt das Schicksal von Mühsam, für mehr als fragwürdig.

    1. Lieber Jürgen, ich gebe Dir in jedem Fall Recht, dass Erich Mühsam ein großer Literat und Intellektueller war – wenngleich er selbst letzteren Begriff für sich wohl abgelehnt hätte. Darf ich aber fragen, warum ein Comic ihn entwürdige?

  2. Hallo Angie,

    Das mag daran liegen das ich zu den Menschen gehöre die Wert auf literarische Qualität legen. Ein Comic ist eine arge Verkürzung von Literatur und deshalb für mich nicht akzeptabel. Wenn ich bei meinen Enkeln Comics sehe denke ich immer an die Bildzeitung. Weiß der Teufel warum. Ich glaube nicht das ein Comic die Ansprüche erfüllen kann die ich von Literatur erwarte.

    Gruß

    Jürgen

    1. Lieber Jürgen,
      gegen den Glaube, dass eine Comic keine literarischen Ansprüche erfüllen kann, empfehle ich den mit Sicherheit sehr überraschenden Weg in die Graphic-Novel-Abteilung einer guten Buchhandlung – oder wahlweise ein Stöbern durch unsere Reihe From Panels with Love. Die Annahme, die Welt der Comics und Graphic Novels höre bei dem auf, was die Enkel gerne lesen, käme der Behauptung gleich, Prosa würde ausschließlich von Grimms Märchen bis Pippi Langstrumpf reichen.
      Graphic Novels und Comics sind eine literarische Gattung wie andere auch. Nicht jeder Comic ist gut; nicht jedes Gedicht ist toll; nicht jeder Roman haut einen vom Hocker – aber es ist nicht die gesamte Gattung, die misslungen ist; es sind die einzelnen Werken, die wir bewerten können. Die Ausdrucksmittel der Comics und Graphic Novels sind sehr visuell, sie arbeiten an der Schnittstelle von Text und Bild. Das bedarf natürlich einer anderen Lektüre: Ich kann ein Gedicht nicht danach bewerten, dass ich eigentlich ein Essay erwartet hatte, ebenso wenig wie ich einen Comic am Maßstab meiner Lesegewohnheiten von Romanen messen kann.
      Davon abgesehen war Erich Mühsam ein Revolutionär und Gegenkultureller par excellence. Gerade er hätte sich wohl gegen einen konservativen Literaturbegriff gewandt. Denn die Annahme, Comics als jüngere und populärkulturell geprägte Gattung wären per sé weniger wertvoll als kanonisierte Literatur, ist doch genau das: eine traditionelle Trennung in ‚die hohe, wahre Kunst‘ und das Triviale, das den Namen Kunst nicht verdient hätte. Das ist weder mit dem Anarchisten Mühsam noch mit dem Querdenker Mühsam vereinbar. Ich bin mir sicher, Mühsam hätte dit ziemlee cool jefunden, dat’a da jetzt och noch in sonem Comic jewürdigt wird.
      Litaffine wie auch Graphic-Novel-affine Grüße, Angie

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