Und jetzt ist sie hier

Sie war in London, um Literatur zu studieren, sie hat versucht, ihre Familie und ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, in der großen Stadt anzukommen und ihre Herkunft aus der Working Class im Norden Englands ein Stück zu vergessen. Sie hat unter den gierigen Blicken verschiedener Männer in Kneipen gearbeitet und versucht, sich und ihren Körper kennenzulernen, sie hat probiert, ihren alkoholkranken Vater zu retten und dabei vergessen, sich selbst zu beschützen. Und jetzt ist sie hier, in dem alten Cottage ihres verstorbenen Großvaters in Irland. Hier versucht sie, Lucy, die vielen kleinen Mechanismen ihrer Vergangenheit zu erzählen und zu verstehen und kommt sich und ihrer Familie ein kleines Stück näher. Jessica Andrews Debüt Und jetzt bin ich hier ist ein sinnlicher Roman über ein Mädchen, eine junge Frau voller Höhen und Tiefen, über eine Suche und manchmal ein Finden.

Jetzt ist sie hier: Lucy. Foto: Karolin Kolbe

Lucys Großvater ist tot. Er ist gestorben und Lucy und ihre Mutter haben das Cottage in Irland geerbt. Als Lucy dort ist, um den Großvater zu verabschieden, fasst sie einen Entschluss. Sie wird nicht in London bleiben.

Das war meine Gelegenheit, und ich ergriff sie. Ich schrieb meinem Vermieter, er solle meine Kaution behalten. Ich stapelte meine Bücher in Kartons und verschenkte meine Kleidung. Ich nahm den Zug nach Norden zu meiner Mutter, wir stiegen ins Flugzeug und mieteten ein Auto, und jetzt bin ich hier.

Und während Lucy sich in der kleinen Hütte einrichtet, in der sie und ihre Familie die Sommer verbrachten, bricht ihre Vergangenheit geradezu körperlich aus ihr heraus.

Körperlichkeiten

Jessica Andrews Roman beginnt schon körperlich. Es geht um Lucys Geburt, die enge Verbindung zu ihrer Mutter, Körperflüssikeiten, Blut, Schreie, Schweiß. Überhaupt ist diese Verbindung zur Mutter immer wieder Thema, in kleinen Absätzen, die im Buch gestreut werden, beschreibt Lucy ihre große Zuneigung, ihre Bewunderung für ihre Mutter, den Geruch ihrer Haut, die Schönheit, die Blicke der Männer. Lucy beobachtet den Körper der erwachsenen Frau genau, er ist für sie der Prototyp des Weiblichen, ein Vorbild.

Deine Beine sind voll piksiger Stoppeln, du sagst mir, Frauen machen das so. Ich fasse meine eigenen, auch im Sommer daunig weißen Beine an. Ich bin hell, du bist dunkel. Du bist Sommersprosse und Leberfleck, ich bin ducrhsichtig wie Pauspapier. Ich will so voller Leben sein wie du.

Gleichzeitig erzählt Lucy so auch von ihrer Abnabelung, dem Großwerden, dem Entzweien von Körpern, die mal einer waren. In der Pubertät, im Erwachsenwerden, sind es plötzlich die Hände von Jungs und Männern, die sie berühren, manchmal halten. Auch Lucys Pupertät, die Veränderungen des Körpers und die damit verbundene Vielzahl sexistischer Erlebnisse, von denen Lucy erzählt und die sie zunächst nicht als solche erkennt, ist ein immerwiederkehrendes Motiv im Buch. In der Schulzeit sind es noch die Sprüche und Blicke der Jungs, die sie in Scham aber auch in Stolz versetzen. Sie entwickelt einen Hunger in ihrem Bauch, den sie noch nicht zu stillen weiß.

Mein Körper ist der falsche Körper. Ich habe einen großen Busen und eine schmale Taille, und erwachsene Männer bleiben auf der Straße stehen und starren mich an. Anfangs ist es aufregend, wenn mir Mitschüler auf der Treppe an den Hintern fassen, aber es wird schnell lästig. Ich will es, aber ich will es auch nicht. Ich will gesehen werden und zugleich unsichtbar sein, oder vielleicht will ich auch nur von ganz bestimmten Leuten gesehen werden, aber nicht von den anderen. Es kommt mir unfair vor, dass ich es mir nicht aussuchen kann.

Als junge Frau darf sie in einem der Pubs, in dem sie arbeitet, irgendwann nicht mehr der Küche. Die Blicke der Köche fräßen sie auf, so die Wirtin. Es gipfelt darin, dass ihr Chef in einem anderen Pub sie an sich zieht und ihre Hand auf seinen steifen Penis legt. Am Ende ist es Lucy, die keine Pubschicht mehr bekommt. Sie wird zur Schuldigen gemacht.

Familienzeiten

Lucys zweites großes Thema ist die Familie. Die starke Verbindung zur Mutter und die Rollenumkehrung beim Vater, für den die Tochter früh Verantwortung übernimmt. Schon als Lucy klein ist, verschwindet er immer wieder für mehrere Tage, taucht dann schmutzig und betrunken wieder auf, legt sich hin, kommt tagelang nicht aus dem Bett. Das ist Lucys Kindheit. Für sie scheint das normal.

In unserer Kindheit blies meine Mutter eine rosarote Kaugummiblase um meinen Bruder und mich, in der wir in Sicherheit waren vor der harten Realität. Die Worte Alkoholiker oder Depression habe ich kein einziges Mal von ihr gehört.

Ihr Bruder, Josh, wird gehörlos und mit drei Löchern im Herzen geboren. Spätestens ab dann ist Lucy nicht mehr das Kind. Sie ist die große Schwester und ersetzt das abwesende Elternteil. Sie ist die große Hoffnung der Familie, das sagen ihr der Großvater und später auch die Mutter. Lucy erzählt ihre Geschichte, die ihrer Mutter und Großmutter, sie breitet die Familie anhand der Frauenschicksale aus. Männer und Jungs aus ihren Heimatorten Nordengland und Irland – mit Ausnahme ihres Bruders Josh – sind meist gewaltvoll, verbal, mit Fäusten oder Blicken, sie trinken und sie sind schmutzig. Und ein bisschen sehnt sich Lucy nach diesem Schmutz, der Härte und beginnt ihren Hunger damit zu stillen.

Poetische Sprache

Jessica Andrews Sprache ist peotisch, eindringlich, körperlich, explizit. Die vielen Sprünge zwischen Lucy in Irland, Szenen aus der Vergangenheit oder einfach kurze Kapitel zu Lucys tiefen Gedanken ermöglichen ein vielschichtiges Bild auf die Protagonistin, auf ihre Herkunft, ihre Wünsche, den Druck, die Esstörung, die Probleme und die Überforderung, der sie früh ausgesetzt ist. Sie entwickelt eine Liebe zur Literatur und lernt sich in London an der Uni zu behaupten. Und doch kehrt sie in das kleine Cottage in Irland zurück, wühlt in der Vergangenheit, um gleichzeitig die Wogen zu glätten, die Löcher zu stopfen und zu verzeihen: den Eltern und sich selbst.

Jessica Andrews: Und jetzt bin ich hier, Hoffmann und Campe 2020.
Karolin Kolbe
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