Weihnachten 2016 // Buchempfehlungen der LITAFFIN-Redaktion // Teil 2

So here it is, Merry Christmas. Schon wieder. Das Jahr hat uns eingeholt, der Tannenbaum ist geschmückt, die letzte Adventskranzkerze bald schon runtergebrannt. Für die unter euch, denen noch das letzte Weihnachtsgeschenk fehlt – Rettung naht! Ein gutes Buch kann nie das falsche Geschenk sein. Was die Litaffin-Redaktion dieses Jahr noch so auf dem Radar hat, erfahrt ihr hier in unseren Redaktionsempfehlungen Teil 2: 

Marie empfiehlt: Realitätsgewitter – von Julia Zange. Aufbau. 17,95 Euro.

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Darum geht’s:

Marla ist das, was man zweifelsohne als eine „Berliner Szenefrau“ bezeichnen darf. Sie weiß immer, welcher Künstler oder DJ gerade angesagt ist, schläft und isst nicht sonderlich viel, kennt dafür aber umso mehr Leute. Bei 1675 Facebookfreunden kann sie durchaus schon mal den Überblick verlieren, benötigt sie scheinbar jedoch, um sich zu versichern, nie alleine zu sein. Die digitale Nähe zu ihrem Freundeskreis reicht allerdings nicht immer aus, auch die realen sozialen Kontakte müssen wie besessen gepflegt werden. Beim Lesen wird es teilweise richtig anstrengend, wenn Marla nach einem Essen oder einer Hausparty einfach nicht nach Hause gehen möchte, um sich nicht mit sich selbst auseinandersetzen zu müssen. Um 4 Uhr morgens geht es noch in einen Club, von dort ins Bett eines Exfreunds und am nächsten Morgen zu einem Interview mit einem Life-Extension-Guru im Soho House, denn Marla ist Praktikantin eines Modemagazins. Da dies, neben dem Umtausch von Klamotten, ihre einzige Einnahmequelle ist, muss sie sich abwechselnd von ihren verschiedenen Künstlerfreunden (ja, das sind alles Männer) zum Essen einladen lassen. Nachdem sie das Philosophiestudium direkt wieder geschmissen hat, haben ihr die reichen Eltern das Taschengeld gestrichen. Apropos Eltern. Die „echten“ Eltern der Autorin Julia Zange haben sich angeblich gerade einen Anwalt genommen, weil sie sich im Roman ihrer Tochter (die by the way als Redakteurin eines Modemagazins arbeitet) wiedererkannt haben. Skandalös!  Kein Wunder, dass ausgerechnet Maxim Biller eine kleine Lobeshymne auf Zanges Buchrücken schwingt. Sein Roman Esra war ebenfalls ein wenig zu realitätsnah. In diesem Fall allerdings nicht für die Eltern, sondern für seine Exfreundin.

Das perfekte Geschenk für: 

Leute in Berlin. Man erkennt in Realitätsgewitter, neben Straßen, Clubs und Menschen, so manche Situation wieder, selbst wenn man keine Szenefrau ist oder sein möchte. Für Eltern ist es, wie man sieht, eher weniger geeignet.

Gemerkt:

Der Gendarmenmarkt ist hell und sauber. Japanische Touristengruppen machen brav ihre Runden. An den Säulen des Konzerthauses hat der Künstler Ai Weiwei vor kurzem anlässlich einer Filmgala hunderte Schwimmwesten von Flüchtlingen befestigen lassen. Im Eingangsbereich bot man den Filmschauspielern dann goldene Rettungsdecken an, die sie sich wie einen Umhang umlegen konnten, um damit lustige Selfies zu machen, die sie dann mit einem wichtigen Hashtag auf Instagram posteten. Zwei Damen laufen an mir vorbei. ´Es sieht ja schon ganz hübsch aus mit den vielen Westen. Also, mir gefällt es.´

Dazu passt: 

Die HBO-Serie Girls, weil der Lifestruggle der gleiche ist, auch wenn Zanges Protagonistinnen nicht in New York, sondern Berlin leben. Panikattacken, Partys, Planlosigkeit. Hinzu kommt, dass jedes Kapitel in Realitätsgewitter wie eine neue Episode wirkt. Mal liegt der Fokus auf dem Partyleben, mal sind es die Beziehungen untereinander und dann steht plötzlich, genau wie in einer Girls-Folge, der Kleinstadtbesuch bei der Familie an, bei dem zusätzlich zur ohnehin schon instabilen Gefühlsbalance alte Emotionen aufgewühlt werden. Dabei steht jedes Kapitel bzw. jede Folge unter dem Motto: Was möchte diese Generation mit der Zukunft anfangen und wie schafft man es, in der Großstadt nicht unterzugehen?

Hier schon mal der Trailer zur neuen und letzten Staffel Girls:

https://www.youtube.com/watch?v=euZBySbSZbM

Clara empfiehlt: Risiko und Idiotie – von Monika Rinck. kookbooks. 19,90 Euro.

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Darum geht’s:

Alle müssen mitmachen. Alle dürfen. Zugegeben, Monika Rincks Essayband ist keine Neuerscheinung, aber ein Buch, das man immer wieder lesen kann. Die Streitschriften handeln von guten Risiken, unter anderem dem, auf dem Gebiet der Poesie nicht verstanden zu werden. Rinck fragt als Lyrikerin nach dem Sinn der Bemühung, Gedichte verstehen zu wollen. Achtung, an alle, die jetzt aussteigen, weil sie mit Gedichten nichts am Hut haben: Ihr verpasst etwas. Schon nach zwei Seiten wird klar, dass Poesie und poetische Arbeit nur den Ausgangspunkt für Rincks Überlegungen bilden, die sich dann in Diskurse zu Literatur, bildender Kunst und Film vertiefen und spielerisch Positionen ausloten. Die Essays mit Überschriften wie Berichte vom Ende der Drastik, Bitte beenden Sie schwebende Arbeiten jetzt, DENKE KNALL oder Singen die Dinge sind kluge und (selbst)ironische Bestandsaufnahmen aus dem Alltag einer Schreibenden, bei weitem nicht nur für Schreibende.

Das perfekte Geschenk für: 

Verrückte, Verspielte, Erschöpfte, Verkopfte, Schreibblockierte, solche die es werden wollen und solche, die ganz woanders stehen.

Gemerkt:

kookbooks warb eine Zeit mit dem Spruch: „Poesie als Lebensform“. Aber was sollte das bedeuten? Was sollte man tun? Sich besonders originell verhalten? Mehr Toleranz mit Unverständlichem zeigen? To throw my arms around Paris? Selbst unverständlich sein? In multiplen Liebeskonstellationen leben? Die Ausdeutung aller Erfahrung rotierenden Bezugssystemen überlassen? Oder einem zentrifugalen Schwindel der Deutung, der selbst wieder poetisch ist? Erwartungen enttäuschen, Erstaunen generieren, Langeweile nicht scheuen? Einfach gar nichts tun? Immerzu gute ästhetische Entscheidungen fällen? Die Worte wie Schritte in der Gefahrenzone setzen? Oder gerade darin herumtollen? Sich wie eine Idiotin aufführen? Die berühmte post-avantgardistische Mischung aus Sublimity (Erhabenheit) und Stupidity (Dummheit) – die Stuplimity – hervorbringen und selber aushalten?

Dazu passt:

 

Emily empfiehlt: Die Welt im Rücken – von Thomas Melle. Rowohlt Berlin Verlag, 19,95 Euro.

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Darum geht’s: Das Buch habe ich mir aus einem Impuls gekauft. Ein schneller Griff ins Regal, gezahlt, eingesteckt. Ich kannte den Autor nicht, hatte nur einen Blick auf den Klappentext geworfen. Ein paar Tage später stand das Buch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Da hatte ich es schon längst ausgelesen. Die Welt im Rücken ist Roman und Autobiografie in einem. Melle erzählt von der Erkrankung, die sein eigenes Leben bis heute bestimmt: Manische Depression. Bipolare Störung. Ein Buch darüber, wie es sich anfühlt, völlig ohne Halt zu sein und dabei doch immer weiterzurennen. Eine Spirale nach unten. Ein Fausthieb. Eine popkulturelle Chronik. Ein schlichtweg geniales Buch. Auch über das Scheitern.

Das perfekte Geschenk für: jeden, dem man zu Weihnachten auch etwas weniger Leichtes zumuten kann. Die Welt im Rücken ist ehrlich und hart, manchmal unerwartet komisch, manchmal bloß noch schmerzhaft. Es kann etwas für jeden sein, der sich darauf einlässt. Und für ein paar Menschen sicherlich auch eine große Hilfe.

Gemerkt:

Das Drama, das eine erste Psychose auslöst, ist erheblich. Für einen selbst ist es ein unbegreiflicher, allumfassender Kick, der einen in himmelschreiende Sphären schleudert; für Freunde und Familie ist es die blanke Tragödie. Aus dem Nichts wird da einer, den man anders kennt, verrückt, buchstäblich verrückt, und zwar genauer, realer, peinlicher, als es in den Filmen, den Büchern gezeigt wird, wird wahnsinnig wie ein wildäugiger Penner, der den Straßenverkehrt beschimpft, wird dumm, töricht, unheimlich. Aus dem Nichts wird der Freund zum Fremden an sich.

Dazu passt:

 

Ann-Kathrin Canjé
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