Zwischen dem Wahnsinn und der Normalität ein gutes Verhältnis finden

Der Pianist Christoph Reuter hat gerade sein erstes Buch „Alle sind musikalisch – außer manche“ herausgebracht. Ein Gespräch über Humor, Zeit und künstlerisches Schaffen.

Interview: Judit Anna Hoffkamp

Christoph Reuter: Pianist und Komponist. 45 Jahre. Lebt in Berlin. Seit 2006 musikalischer Sidekick bei den Liveshows von Dr. Eckart von Hirschhausen. (Foto: Frank Eidel)

Judit Hoffkamp: Wer sind die manchen, die nicht musikalisch sind?

Christoph Reuter: Erstmal bin ich ein großer Freund davon, nicht alles so bierernst zu nehmen. Diese Aussage ist eher ein Zwinkern. Die meisten Menschen denken, dass sie nicht musikalisch sind. Offiziell ist der wissenschaftliche Begriff von Musikalität aber bereits erfüllt, wenn man zwei Töne auseinanderhalten kann. Es gibt tatsächlich nur wenige Leute die amusikalisch sind. Zum Beispiel der Komponist Maurice Ravel, der am Ende seines Lebens keine Töne mehr unterscheiden konnte.

Warum machst du Musik?

Gegenfrage: Warum lebst du, warum atmest du, warum gehst du was essen? Mit sechs Jahren habe ich angefangen Klavier zu spielen. Natürlich habe ich damals nicht gedacht, dass Musik diese Bedeutung in meinem Leben einnimmt. Das war Zufall. Wenn du Pech hast, ist es ein elementarer Teil deiner Selbst etwas zu machen, das keine Sau interessiert – zum Beispiel finnischen Heavy Metal. Davon kann man schwierig leben.

Wie bleibst du am Leben?

Erstmal immer fleißig weiteratmen. Für mich gibt es verschiedene Möglichkeiten mit dem Wahnsinn der Welt umzugehen – zum Beispiel Humor. Der eine wird depressiv, der andere macht Quatsch. Mit Humor lassen sich Sachen transportieren und aushalten, die ansonsten nicht transportierbar sind. Humor bietet eine herrliche Möglichkeit außerhalb der festgefahrenen Denkmuster zu agieren. Wobei das nicht bedeutet, dass es nicht auch Dinge gibt, an denen ich ab und zu verzweifle. Da hilft dann auch kein Humor mehr.

Humor und Musik also als Bewältigungsstrategie um Welt zu verarbeiten?

So ein komplizierter Typ bin ich nicht. Die Welt verarbeiten kann man sowieso nicht. Welt ist immer, was dein Gehirn aus den paar tausend Problemen macht, die es in der Welt gibt. Wenn man sich die anschaut – Krieg, Klimakatastrophe, gesundheitliche Probleme, Beziehungsbaustellen, Laktoseintoleranz – dann muss man als Einzelner erstmal damit klarkommen, was das alles bedeutet. Humor und Musik sind meine Möglichkeiten in meiner Welt nicht verrückt zu werden.

Und weil die Welt immer verrückter wird, machst du jetzt auch noch Literatur.

Ich würde nicht behaupten, dass ich Literatur gemacht habe. Ich habe ein Buch über die verrückte Welt der Musik geschrieben, weil ich das Glück hatte von einer Literaturagentur gefragt worden zu sein, ob ich eines schreiben möchte. Im Eifer des Gefechts habe ich zugesagt. Ich bin ein neugieriger Mensch und mag es Sachen auszuprobieren, von denen ich vorher keine Ahnung hatte. Es hat mir großen Spaß gemacht: und nun ist es da!

Was weißt du jetzt, was du vor dem Schreiben des Buches nicht wusstest?

Oh, eine Menge. Die Selbstdisziplin, die man zum Schreiben eines Buches braucht, habe ich komplett unterschätzt. Ich habe große Achtung vor Leuten, die das als Broterwerb machen und ihren Text immer wieder umschreiben. Chapeau! Sie kämpfen mit sich selbst und nicht direkt mit einem Publikum. Der Wahnsinn der Schreibkrise gehört da einfach dazu. Und wenn das Buch fertig ist, muss man damit ebenfalls klarkommen. Nichts mehr ändern, das war‘s.

Schreiben ist also eine einsame Tätigkeit.

Auf der Bühne kann man fast immer mit jemandem reden. Man kriegt schnell Rückmeldung – Applaus, Zustimmung, Ablehnung. Als Schriftsteller sitzt man möglicherweise jahrelang in seinem Zimmer, baut ein Buch zusammen und wenn man Glück hat, sagt die Nachbarin: ‚schön, das hat mir ganz gut gefallen, ihr Buch, aber Seite 15 fand ich nicht so gelungen‘. Zwischen dem Schreiben und der Resonanz, die man als Schriftsteller vom Publikum erhält, liegt eine viel größere zeitliche Entfernung als bei Musikern.

Gab es Resonanz auf dein Buch?

Ja, und darüber bin ich sehr froh. Das heißt schließlich, dass es jemand Fremdes gelesen hat und nicht nur meine Mutter. Überrascht hat mich, dass es Leute gibt, die akribisch gerne Fehler finden wollen. Zum Beispiel hat mir jemand geschrieben, an einer Stelle hätte ich ein Lied so erklärt, weiter oben aber was anderes geschrieben. Diese Form der Kritik freut mich enorm. Ich denke mir: supergeil, du hast mein Buch tatsächlich gelesen.

Was kann Literatur, was Musik nicht kann?

Spannend war für mich die Erkenntnis, dass Humor in Buchform eine völlig andere Sache als auf der Bühne ist. Ich dachte, ich übersetze einfach mein Musikkabarett in Buchform und bin fertig. Das hat überhaupt nicht funktioniert. Schreiben ist eine völlig andere Kunstform als Spielen. Im Kabarett hat man im Idealfall eine Sekunde Zeit etwas zu realisieren. Im Buch hat man dafür zwei Seiten. Am Ende sind von meinem gesamten Bühnenprogramm vielleicht fünf Seiten übriggeblieben. Es ist für mich einer der großen Glücksmomente des Lebens, wenn sich herausstellt, dass etwas völlig anders ist als ich zuerst dachte. Auf die Schnauze fallen und völlig anders ansetzen müssen als ich eigentlich geplant hatte, das liebe ich.

Ist Musik schreiben anders als Worte schreiben?

Aber klar. Allerdings haben die meisten Projekte für mich eine ähnliche Zusammensetzung. Es gibt Arbeitseinheiten, alles muss gegliedert sein: Entscheidungsphase, Arbeitsphase, Korrekturphase. Die Selbstorganisation muss ebenfalls da sein. Auch bei einer Firma, die Waschmaschinen herstellt, gibt es einen Plan und ein Step-by-Step-Vorgehen. Als Künstler hat man das große Glück, dass man sich den Plan und das Vorgehen selbst überlegen darf. Es ist aber trotzdem immer ein Geben und Nehmen zwischen den schönen und den nervigen Dingen. Das eine gibt es ohne das andere nicht. Für mich ist die Brainstorming-Phase die schönste, weil ich da freidrehen kann. Die Korrekturphase ist am nervigsten. Beim Orchester-Schreiben kann das gegen Ende spätnachts etwas anstrengend werden. Zum Beispiel wenn ich Layouts für die zweite Oboe schreiben muss und der ungeduldige, leicht genervte Christoph in mir sich denkt: zweite Oboe, wer braucht die schon? Das war jetzt gemein. Ein Hoch auf die zweite Oboe!

Also kein Unterschied?

Doch, es ist ein großer Unterschied. In der Musik schreibt man ein Stück, übt es, das Konzert ist am nächsten Freitag. Beim Schreiben ist die Abfolge von der Fertigstellung des Manuskripts bis zu dem Zeitpunkt, an dem man selbst oder jemand anderes das Buch in den Händen halten kann, gefühlt viel länger. Die Komponente, die Zeit in diesen künstlerischen Prozessen spielt, finde ich interessant. Wir leben nun mal in einer Gesellschaft, in der alles am besten immer in Echtzeit stattfindet.

Wie hängt das mit Humor zusammen?

Auch im Humor geht es darum, welcher Flow gerade passend ist. In manchen Räumen funktioniert ein Witz, der in anderen Räumen völlig unpassend ist. Vor 30 Jahren haben Leute Chauvi-Sprüche rausgekloppt, bei denen man heute denkt, das ist unfassbar peinlich. Damals hat der Saal gebrüllt. Humor hat also ebenfalls eine zeitliche Komponente.

Glaubst du, du bist witzig?

Es geht nicht darum, ob man sich selbst für witzig hält. Mein Bild ist das Windsurfen: schaffe ich es auf einer atmosphärischen Welle in einem Raum zu surfen? Die Frage ist dabei nicht, wie hoch man kommt, sondern wie lange man auf der Welle surfen kann. Wenn es ein schöner Abend ist, ist die Welle da und alles ist wunderbar. Aber manchmal kann man noch so gut vorbereitet sein und es gibt einfach keine Welle. Die Kunst ist, mit all diesen Dingen durch die Länge des Lebens hindurch umzugehen, sowohl in der Musik als auch im Leben. Es ist ratsam auf der Welle zu surfen, die gerade existiert. Das meine ich nicht im populären Sinne. Ich bin sowieso nur Randgruppe, Randesrandgruppe der Randgruppen. Es geht darum, dass man das, was man gerne macht, machen darf. Solange das der Fall ist, bin ich glücklich und humorvoll.

Du überraschst dich gerne selbst. Mit was überraschst du dich für dein nächstes Projekt?

Als Musiker geht es darum, mit den 88 Takten, die dir zur Verfügung stehen immer wieder irgendetwas Verrücktes zu machen. Durch Corona habe ich angefangen mehr für Orchester zu schreiben. Komponieren ist für mich, als wäre ich wieder acht Jahre alt und hätte gerade ein Set voll mit Legosteinen bekommen, die sich immer wieder neu zusammensetzen lassen.
Gerade sitze ich am Bau einer Ballettmusik für ein Orchester. Da darf ich mir Musik ausdenken und kann machen, was ich will. Allerdings muss ich mich dann doch irgendwann für eine mögliche Zusammensetzung entscheiden, an der ich auch dranbleibe. Man darf die Überraschung nicht Überhand nehmen lassen und ständig hin und herspringen. Man muss zwischen dem Wahnsinn und der Normalität ein gutes Verhältnis finden.

Christoph Reuter: „Alle sind musikalisch – außer manche“, Heyne Verlag, München 2021, 368 Seiten, 20 Euro.

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