Der kleine Nils auf der Leipziger Buchmesse

Ich bin ein kleiner Junge auf der Buchmesse in Leipzig.

Der kleine Nils. Auf Leipziger Kondenswasser.

Und ich will auch eines von diesen blauen Bändchen! Mit einer Karte daran, hinter Plastik und mit meinem Namen darauf. So eines wie die ganzen Erwachsenen hier haben. Aber ich habe keines, ich weiß auch nicht, wo es eines gibt. Wahrscheinlich hinter dem Aussteller- und Fachbesuchereingang. Aber den kann ich nicht finden. Also stehe ich am Haupteingang zusammen mit den Muttis und drücke mich durch das Drehkreuz – ziemlich unbeholfen. Es ist ja auch das erste Mal, dass ich hier bin. Und der Versuch, die ersten Schritte auf der Messe so zu machen, als wären es nur die ersten in diesem Jahr, sieht sicher ziemlich doof aus. Und kindisch.

Auf meiner blöden, kleinen Eintrittskarte steht ‚Special Visitor‘ und irgendwie stimmt das auch. Das hier ist mein neues zu Hause, glaube ich. Ich habe es mir ausgesucht und ich bin schon recht froh. Oben darüber steht ‚Buchbranche‘, aber drinnen war ich noch nicht. Nur von außen habe ich schon mal hineingeschaut. Ich bin neu. Also jetzt bloß nicht auf den Messeplan schauen, Nils! Aber da ich eh nicht weiß, wo ich eigentlich hin will, brauche ich das auch nicht auf der Karte zu suchen. High Five!

Nach drei Stunden habe ich meinen liebsten Ort gefunden: Halle 5, lauter unabhängige Verlage. Ich bekomme eine Schallplatte vom mairisch Verlag geschenkt und bin viel zu stolz, sie in eine von den großen, bunten Taschen zu stecken, die alle Leute hier mit sich herumschleppen. Außerdem weiß ich nicht, wo es solche gibt und was man dafür tun muss, und so trage ich die Platte vor der Brust nach Hause. Einen Apfel und ein Kindergärtnerinnen-Lächeln gibt es beim binooki Verlag, aber nur wenn man es vorbei an den ganzen Leuten schafft. Selma und Inci sind immer so beschäftigt, weil die so viele Preise gewinnen. Vor Voland & Quist steht mein Freund Steffen und der sieht schon aus wie einer von den richtig Großen. Junge, Junge! Und alle reden von dieser Party am Freitag Abend im Alten Landratsamt. Aber ich weiß nicht, ob ich da hin darf.

Dann gehe ich zur Verleihung des Preises der Leipziger Buchmesse. Bevor es los geht, wundere ich mich ein letztes Mal, warum das Corporate Design des Preises viel besser ist als das der Leipziger Buchmesse. Und warum starren alle Erwachsenen eigentlich die ganze Zeit auf ihre Handys, wenn es doch weder funktionierendes Netz noch eine MesseApp gibt? Die Großen grenzen sich wohl gerne durch Absperrbändchen und unfreundliches Sicherheitspersonal mit komischen Frisuren ab und so bleibe ich hinten stehen und schaue der Verleihung zu. Und vor mir sind noch Plätze frei, das ist doof! Während die Nominierten vorgestellt und die Preise verliehen werden, staune ich über die Menschen, die gespannt zuschauen und die Vornesitzer, die so gut reden können. Als Neuling frage ich mich aber schon, wieso nicht allen vorher klar war, dass sieben Jurymitglieder, die allesamt Literaturkritiker und -wissenschaftler sind, das einzige literaturwissenschaftliche Buch mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch auszeichnen würden. Aber weil ich neu bin und klein und dumm, stelle ich diese Frage lieber nicht laut und klatsche. Das machen hier ja alle so. Und dann bin ich auch schon müde und lege mich schlafen in einer dieser gemütlichen Leseecken, von denen es hier so viele gibt. Puh!

Ich bin der erste heute morgen. Schließlich will ich Karriere machen. Auf dem Karrieretag. Auf der Buchmesse. Auf dem Tisch bei den Jungen Verlagsmenschen steht eine Schale mit Ostereiern aus Schokolade und ich frühstücke da. Etwas ist komisch: Alle wollen in die Buchbranche und Bücher machen. Aber warum bloß? Vielleicht weil zu produzieren, was man eh am liebsten in den Händen hält, toll ist, glücklich macht und Unabhängigkeit bescheinigt. Vielleicht aber auch einfach nur, weil es der vermeintlich geringste Widerstand nach einem geisteswissenschaftlichen Studium mit hohem Philologieanteil und ohne Perspektive ist. Aber jeder hier würde dazu wohl ‚Nein‘ sagen. Der kleine Nils ja auch.

Ich bin schnell, ich bin toll, ich bin beim Speed Meeting der ‚Verlage der Zukunft‘ dabei. Yeah! Eine halbe Stunde bin ich vorher da. Es ist ein kleiner Raum mit der Geräuschkulisse wie am Leipziger Bahnhof gestern und alle unterhalten sich total schnell. „Vergessen Sie mal die kleinen Verlage, Sie wollen doch sicher Geld verdienen.“ Huch! Und beim nächsten Gespräch lacht mich die eine Mutti aus, weil ich Social Media für einen Verlag machen will. Und dann sagt sie: „Vielleicht ist dieses ganze Social Media ja auch in fünf Jahren wieder vorbei!“. Na, wenigstens bin ich hier nicht alleine neu und dumm, denke ich. Und als dann der nette Opa einfach ‚Nein‘ sagt, als ich ihn, den Grossisten, frage, ob er auch Geisteswissenschaftler einstellt, denke ich an heute Abend.

Ich gehe auf die Party der unabhängigen Verlage! Aber ich darf nicht so lange. Es scheint mir als beachte sie sonst niemand, aber wenn die Unabhängigen feiern, feiern alle mit, weil die so cool sind und die anderen nicht! Abhängig rauchen alle und können mit Musik nicht so viel anfangen wie mit Büchern, aber nett sind alle. Und es ist so toll, ich habe was zu trinken und bekomme immer einen Strohhalm ohne zu fragen, wie bei Oma. Steffen ist auch da und wir glücklich und viel kann nicht mehr kommen, also gehe ich wieder zurück in meine Leseecke. Es liegt Schnee, es ist glatt und ich falle beinahe hin.

Am Samstag will ich nicht mehr auf der Buchmesse sein und ich streiche schon mal den Sonntag. Nun bin ich aber noch da und es ist mir alles zu voll und zu eng. Die Stände sind leer, aber die Gänge davor voll. Lauter doofe andere Kinder. Ein Junge steht mitten im Gang mit einem Bilderbuch in der Hand und starrt wie versteinert völlig abwesend auf die bunten Tiere. Keine Mama, keine Messe, keine Meute. Ganz und gar versunken merke ich gar nicht, dass ich selbst wie angewurzelt da stehen bleibe und dem Kleinen von oben zuschaue, wie er umblättert, wie er seine laufende Nase mit der Hand abwischt und alles im Pullover verteilt; wie er gerufen wird von seiner Mama, die so groß ist wie plötzlich ich und ihm das Buch wegnimmt und zum Stand zurückbringt. Er ist traurig und wird an der Hand weggezogen. Ich kann das echt gut verstehen! Keine Sorge, Kleiner: Wenn ich groß bin, mache ich dir ein Buch und wenn ich dann auf der Messe stehe, schenke ich es dir. Dein Buch.

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