Erinnern und Erfinden – Das Erzählpatenprojekt

Ein Jahr lang treffen sich regelmäßig Menschen aus zwei verschiedenen Generationen. Alt erzählt, Jung schreibt – Das ist der Gedanke hinter dem Erzählpatenprojekt von Larissa Boehning. Am 21. Februar 2012 findet im Literaturhaus die Abschlusslesung des Projektes statt. Jeder Mensch ist voller Geschichten. „Unsere Erinnerungen sind ein Gewebe, aus dem wir bestehen“, sagt die in Berlin lebende Autorin Larissa Boehning. Wenn wir erzählen, schöpfen wir aus dem Erinnerungspool unseres eigenen Lebens. Literatur ist immer ein Stück Gedächtnisspeicher. Geprägt ist dieser durch unsere persönlichen, individuellen Erlebnisse, so wie durch die Gesellschaft und die Zeit, in der wir leben.

Im Erzählpatenprojekt geht es um die Geschichten der 1920er Generation. Weltwirtschaftskrise, Drittes Reich, die deutsche Teilung – diese Menschen haben viel erlebt. Das, was sie erlebt haben, erzählen sie ihren Erzählpaten, jungen Autoren. Das Projekt ermöglicht einen Dialog von Generation zu Generation. Dabei geht es nicht vordergründig darum, Zeitzeugenberichte der jüngeren deutschen Geschichte zu sammeln. Es handelt sich auch nicht um die komplette Dokumentation einzelner Lebensgeschichten. Vielmehr werden Erinnerungen zu Literatur, zu Geschichten, in denen die Grenzen zwischen tatsächlich Erlebtem und Erfundenem verschwimmen. „Erinnerung ist eine Konstuktion. Man erfindet immer dazu, erlebt alles subjektiv“, so Larissa Boehnung. Erinnerungen verändern sich mit der Zeit, verblassen, werden vergessen, verdrängt oder im Rückblick, 50 Jahre später, ganz anders wahrgenommen. „Die Senioren sind alle über 90. Sie wissen, was es heißt, ein langes Leben zu leben.“
Finanziert wird das Projekt mit Hilfe von Geldern des Europäischen Sozialfonds und der Stadt Berlin. Larissa Boehning fungiert als Moderatorin, ist Ansprechpartnerin bei Problemen und schreibt ebenfalls mit. Erzählt werden unter anderem die Geschichten einer Chirurgin, eines Journalisten, einer Apothekerin, einer Sonderschulpädagogin und eines Berufsoffiziers der Marine im Zweiten Weltkrieg. Insgesamt finden sich zehn verschieden gelebte Leben in den Geschichten dreier Autoren. Daniel Klaus ist freier Autor, Preisträger und Stipendiat mit zahlreichen Veröffentlichungen in Zeitungen, Literaturzeitschriften, Anthologien und im Radio. Sanaz Rassuli leitete Schreibkurse, ist als Regieassistentin tätig und arbeitet ehrenamtlich als Sterbebegleiterin. Eva-Maria Reimer ist Theaterpädagogin, Schauspielerin, Tänzerin und leitet Workshops. Als Organisatorin von Mitspielgelenheit e.V. baute sie den Seniorentheaterbereich mit auf.

Larissa Boehning legt bei der Auswahl der Autoren Wert auf Erfahrung: „Ich brauchte Autoren, die eine hohe soziale Kompetenz haben.“ Schwieriger als gedachtstellte sich die Suche nach Erzählerinnen und Erzählern heraus. Letzendlich unterstützt die Senioren Residenz ProSeniore am Kurfürstendamm das Projekt. Von 15 vorgeschlagenen Teilnehmern willigen zehn ein. Die Skepsis bleibt. „Wer soll sich denn für die Lebensgeschichte der einzelnen hier im Raum interessieren? Worauf soll das jetzt hinauslaufen?“, beschreibt Sanaz Rassuli die Reaktionen beim Kennenlerntreffen. Die Senioren wollen wissen, „wie wir uns das überhaupt vorgestellt hätten, wir könnten doch nicht einfach so in das Leben anderer hineinplatzen und sie nach intimen Details befragen.“ Sanaz Rassili beschließt, in einem ihrer Texte die Geschichte des Besuchen und Besuchtwerdens ihrer Patin zu beschreiben. „Seit dem Morgen bewege ich mich in dem Gefühl, komplett angezogen nackt zu sein,“ reflektiert sie.
Daniel Klaus schreibt aus der Ich-Perspektive. So beginnt jeder Abschnitt einerseiner Geschichten mit einer Jahreszahl und der Auflistung historischer Fakten. Erst dann zoomt der Fokus auf persönliche Erlebnisse in dieser Zeit. Auch Eva-Maria Reimer schreibt in der Geschichte, in der es darum geht, wie eine junge Jüdin dem Holocaust entkam, aus der Ich-Perspektive. „Ein Visum für das Leben“ liest sich wie Notizen oder Tagebucheinträge – sehr lebendig.

Die Idee zum Projekt Erzählpaten entstand durch die Bekanntschaft mit einer alten Dame. Sie war dabei, ihre Kindheitserinnerungen aufzuschreiben, und bat Larissa Boehning, die verschiedene Schreibkurse leitet, ihr behilflich zu sein. „Sie ist mittlerweile verstorben. Ich habe ihr Erinnerungserbe und werde irgendwann ihre Geschichte schreiben.“ Am Ende des Erzählpatenprojektes ist der Erzähler der erste Leser. Das Urheberrecht liegt bei den Autoren, dennoch muss jeder Senior seinen Text am Ende freigeben. Dies ist in einem „Erzählvertrag“ festgehalten. „Es sind sehr menschliche Texte geworden. Die Senioren waren überwiegend sehr berührt“, erzählt Larissa Boehning. Trotz schwiergem Start konnten letzendlich alle Teilnehmer etwas aus dem Projekt mitnehmen. Ein paar der geknüpften Kontakte zwischen Jung und Alt bleiben bestehen. Und: „Es sind Geschichten entstanden, die wir uns so nie hätten ausmalen können“, sagt Larissa Boehning.

Hören kann man eine Auswahl dieser Geschichten am 21. Februar um 20 Uhr im Großen Saal des Literaturhauses, Fasanenstraße 23,  10719 Berlin, Eintritt: 5,- / 3,-.

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