Im Gespräch mit Sieglinde Geisel (Teil I)

Sieglinde Geisel ist freie Literaturkritikerin aus Überzeugung. Hier geht es zu einem Gespräch mit ihr über Literaturkritik und gute Literatur. Außerdem hat sie das Online-Magazin tell gegründet. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie es zur Gründung von tell kam, was das Magazin ausmacht, über Literaturkritik im Internet und die Zukunft. 

Sieglinde Geisel, Literaturkritikerin und Gründerin des Online-Magazins tell.

Sie haben das Online-Magazin tell gegründet, wo Sie gemeinsam mit anderen Autoren über Literatur schreiben. Wie kam es zur Gründung von tell?

Ich hatte seit ein paar Jahren Lust gehabt, etwas im Internet zu machen. Ich fand, dass die traditionellen Medien hier zu zögerlich seien und fühlte mich mit meinen Ideen sehr allein. Dann hat Wolfram Schütte 2015 im Perlentaucher den Essay „Literaturkritik im Netz“ geschrieben: Schütte forderte ein neues Medium für Literaturkritik. An der Diskussion im Perlentaucher haben sich etwa zwei Dutzend Leute beteiligt: Kritiker, Verleger, Blogger. Plötzlich war ich nicht mehr allein. Ich habe alle Teilnehmer der Debatte angeschrieben und gefragt: Wer macht mit?

Sind es noch die gleichen Leute wie am Anfang?

Von denjenigen, die sich an der Perlentaucher-Debatte beteiligt hatten, ist heute niemand dabei. Aus der Ferne findet man es spannend, aber am Ende will man doch nicht mit den falschen Leuten im Bett erwischt werden. Das war jedenfalls mein Eindruck. Mir scheint, Literaturkritiker haben Berührungsängste. Doch vielleicht sind sie auch mit meiner Haltung zur Kritik nicht einverstanden: Ich will ja, dass man sich fröhlich streitet und Stilkritik betreibt. Jetzt sind wir zu sechst, und es kommt immer mal jemand dazu. Seit einem halben Jahr ist etwa der Übersetzer Frank Heibert dabei. Er hatte sich immer eine Plattform gewünscht, wo er sich so differenziert und ausführlich zur Literatur äußern kann. So hat er zum Beispiel eine Stilkritik sowie eine Übersetzungskritik zu Hanya Yanagiharas Roman „Ein wenig Leben“ geschrieben, jeweils 12 Seiten Text. Es gibt wohl kein anderes Medium, wo man so etwas machen kann.

Was ist der Anspruch von tell?

Tell ist kein Blog, sondern ein redigiertes Magazin. Dabei geht es auch um Verantwortung. Ich huste nicht einfach mal schnell irgendetwas in die Welt hinaus, wie ich das auf einem Blog tun kann. tell kombiniert den Anspruch des Feuilletons mit Offenheit und Spontaneität. Alle dürfen mitreden, doch es muss gut geschrieben und sauber recherchiert sein. Ich vergleiche tell gern mit einem guten Restaurant, bei dem man sich auf die Küche verlassen kann. Unsere Texte sollen schön und verständlich sein. Wir redigieren geduldig und kompromisslos.

Wie gehen Sie beim Redigieren vor, um diesem Anspruch gerecht zu werden?

Wenn ein Urteil nicht klar ist und Belege fehlen, schicke ich den Text zurück. Denn hier fängt die eigentliche Arbeit der Literaturkritik erst an. Es kostet mich nichts, den Stempel „Meisterwerk“ draufzuknallen, aber wenn ich begründen soll, was an dem Text meisterhaft ist, muss ich in mein Kämmerchen gehen, nachdenken, den Text durchkämmen.

Haben Sie bei tell feste Kriterien für gute Literatur?

Sakrosankte Kriterien gibt es nicht. Der Kritiker, der Kafka als Erster auf dem Tisch hatte, ist nicht zu beneiden. So etwas zu erkennen, ist eine Herausforderung. Die einzige Rettung ist das Sich-Einlassen auf den Text. Dann merkt man sehr schnell, ob er etwas wert ist. Das ist kein Kriterium, sondern im ersten Moment eine subjektive Empfindung, aber wir können nun einmal nicht mit fremden Köpfen lesen. Man muss den Mut zu diesem subjektiven Urteil aufbringen, daran führt kein Weg vorbei. Doch die subjektive Einschätzung ist nicht der Schlusspunkt, sondern der Startschuss: Man sucht im Text nach Indizien dafür, wie man zu diesem Urteil gekommen ist. Wenn man sein Urteil durch Belege legitimiert, wird es für andere nachvollziehbar und man kann eine fundierte Diskussion beginnen.

Friedrich Schlegel nennt ein Kriterium, das mir gefällt: die Lebendigkeit. Der Kritiker müsse die Scheinlebendigen aussortieren. Ein Text, der Lebenskraft hat, gibt auch dem Leser Energie. Ich habe viele Jahre für die NZZ Kinderbücher rezensiert und meinen Kindern viel vorgelesen: Bei Autoren wie Astrid Lindgren und Otfried Preußler geschieht in jedem Satz etwas, da blüht jedes Wort. Beim Vorlesen spürt man das. Bei leeren Texten wird einem dagegen die Zunge lahm.

Streiten Sie bei tell miteinander über Urteile?

Das ist eher ein Spiel, eine Diskussion, auch wenn wir beim Redigieren manchmal uneins sind. Frank Heibert stört sich immer wieder daran, dass ich gerne apodiktisch bin. Das ist typisch journalistisch, meint er als Übersetzer, und vielleicht hat er Recht. Ich treibe ein Argument bis an die Grenze und will mich dann ehrlich machen, mich nicht verstecken hinter Wischi-Waschi-Formulierungen. Frank will lieber differenzieren, ohne im Wischi-Waschi zu landen. Und manchmal findet er Aussagen von mir, die eben doch nicht ganz stimmen. Dann muss ich oft sagen: Verdammt, er hat recht! Aber weil ich mein Urteil nicht aufgeben möchte, diskutieren wir, und so entstehen aus diesem Konflikt dann Formulierungen, auf die ich alleine nie gekommen wäre. Und umgekehrt genauso. Daran wachsen wir alle.

Wie wichtig ist Ihnen Meinungsvielfalt?

Da ist Karl Ove Knausgård ein schönes Beispiel. Ich halte seine autobiografischen Romane nicht für große Literatur, und ich habe das auch in einer Rezension der NZZ am Sonntag geschrieben. Frank Heibert hat den letzten Band von Knausgårds Zyklus einem „Page 99-Test“ unterworfen, das ist ein stilkritisches Format, wo wir die Seite 99 exemplarisch unter die Lupe nehmen. Zugleich suchte ich für tell jedoch jemanden, der versucht, mich von Knausgårds literarischer Qualität zu überzeugen. Peter Urban-Halle hat dann einen Grundsatz-Essay für tell geschrieben. Auch wenn ich eine Meinung nicht teile, achte ich beim Redigieren darauf, dass diese Meinung so prägnant wie möglich ausgedrückt wird. Zu Roman Ehrlichs Roman „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ hatten wir vier Beiträge, die sich aus den Diskussionen ergeben haben. Da ging es um Grundsatzfragen. Bei tell geht es uns um die Sache, wir akzeptieren einander trotz Meinungsverschiedenheiten, und wir haben sehr lustige Sitzungen.

Die Diskussion über Literatur wird oft dadurch erschwert, dass die Autoren und Werke uns auch als professionelle Leser oft persönlich angehen.

Wir nennen tell ein „Medium der Neugier“. Diese Neugier ist ein Privileg. Im Gegensatz zu den großen Feuilletons müssen wir nicht den Betrieb bedienen und einen ausgewogenen Überblick über alle Neuerscheinungen geben. Wir können uns in Debatten einmischen, und wir können unsere Orchideen pflegen. Das macht die Auseinandersetzung auch zu einer persönlichen Angelegenheit. Szilárd Borbély ist beispielsweise ein Autor, der meiner Meinung nach etwas erkannt hat, was uns alle etwas angeht und uns erschüttert. Wenn jetzt einer kommt und sagt: Du bist auf etwas hereingefallen, der erzählt nur triviale Märchen, und ich nach einer Diskussion eingestehen müsste, dass das stimmt – dann wäre ich verletzt. Aber nicht von meinem Gegenüber, sondern von mir selbst, weil ich mich getäuscht hätte. Aber das riskiert man bei jeder ernsthaften Lektüre!

Ich glaube, dass die Begeisterung für Literaturblogger zum Teil daher kommt, dass sie selbstverständlich „Ich“ sagen.

Ein Blogger, der nicht „Ich“ sagt, hat in gewisser Weise seinen Beruf verfehlt, denn er oder sie spricht ja im eigenen Auftrag. Als Feuilleton-Kritiker, der Germanistik studiert hat, weiß man dagegen, dass sich das nicht gehört: In der Literaturwissenschaft bezieht man sich nicht einfach auf das eigene Ich als Instanz, dafür lernt man ein Instrumentarium zur Textanalyse. Ich will das gar nicht kleinreden, ich bin froh, dass ich dieses Instrumentarium habe und benutze es auch. Die Literaturkritik beruht auf einem Prozess, der versucht, die Ergebnisse der Textanalyse zu objektivieren. Als Kritikerin versuche ich jedoch auch herauszufinden, was ich von einem Buch halte, welchen Rang es für mich hat und warum. Der Prozess geht einerseits von mir weg, andererseits beginnt er mit meinen Eindrücken, das ist ein dialektischer Zusammenhang. Meine Aussagen dürfen in der Feuilletonkritik jedoch nicht als Privatmeinung rüberkommen, dann wäre die Ich-Form lächerlich.

Manche Blogger lehnen das klassische Vorgehen der Literaturkritik ab. Caterina Kirsten von Schöne Seiten hat das in einem vieldiskutierten Artikel im Börsenblatt auf den Punkt gebracht: „Literaturblogger wollen gar keine Kritiker sein“. Viele Blogger wollen nichts „totreden“, sondern Lesebegeisterung wecken. Das finde ich völlig legitim. Mir persönlich öffnet das aber keine Tür. Ein Kritiker, der das Privileg hat, beruflich lesen zu dürfen, ist nicht klüger als andere Leser, aber er hat einen Vorsprung, und den sollte er zum Nutzen von uns allen einsetzen.

Sie haben mal gesagt, dass es den Kritikerberuf in fünf Jahren nicht mehr geben wird.

Ich hoffe nicht, dass ich Recht habe, aber ich sehe, wie das Feld schrumpft. Der Anteil der bezahlten Kritiken schwindet rasant. Zum einen, weil im Netz viel zu haben ist, was ohne Honorar geschrieben wurde – tell gehört dazu, was ich gerne ändern möchte –, zum anderen, weil die Honorare der Feuilletons in den letzten 15 Jahren auf ein Drittel von dem gesunken sind, was sie einmal waren. Und in den Printmedien schwinden nicht nur die Honorare, sondern auch der Platz. Der Tages-Anzeiger in der Schweiz hat eine Kooperation mit der Süddeutschen Zeitung. Die sieht de facto so aus, dass beim Tages-Anzeiger kein Geld mehr für auswärtige Autoren da ist: Die Redakteure müssen entweder selber schreiben oder Rezensionen der Süddeutschen drucken. Wer wiederum für die Süddeutsche eine Kritik schreibt, bekommt für eine Wiederverwertung im Tagesanzeiger kein Honorar. Das wäre früher undenkbar gewesen.

Was bedeutet das für die Literatur?

Die Literatur braucht die Kritik. So sehr auch immer auf die Kritik geschimpft wird: Würde sie morgen verschwinden, wären die Autoren sehr einsam und auch die Leser. Laienkritik wird es immer geben, denn wir wollen uns als Leser ja austauschen. Aber das Privileg, das Lesen zum Beruf zu machen, fällt womöglich weg – damit würde allerdings auch die literaturkritische Kompetenz verschwinden, und das fände ich fatal.

Wo sehen Sie Chancen für die Zukunft?

Ich kenne einige Online-Medien, die einen ähnlichen Anspruch haben wie tell: RiffReporter, Der Kontext, Dekoder, picd. Ich könnte mir vorstellen, dass sich solche Medien langfristig zusammenschließen und dem Nutzer eine zentrale Anlaufstelle bieten, eine Art innovatives Leitmedium im Internet. Das wären dann Indie-Medien, so wie es auch Indie-Verlage gibt.

Was wünschen Sie sich und uns für die Zukunft?

Es gibt diesen schönen Satz: Man kann sich schützen, oder man kann lernen. Das ist für mich ein Schlüsselsatz unserer Zeit, vor allem in Bezug auf die Neuen Medien. Ich wünsche mir einen angstfreien Literaturbetrieb, in dem man produktiv miteinander streiten kann. Ein engagierter Dialog ist nie langweilig. Und ich setze große Hoffnungen auf die Jüngeren. Ich erlebe junge Menschen oft als offen und angstfrei, die haben Power und sind wach. Das sehen viele meiner Altersgenossen anders, doch solche Einstellungen wirken als self fulfilling prophecy. Wenn wir glauben, dass die Literaturkritik den Bach runtergeht, dann wird sie auch den Bach runtergehen.

 

Charlotte Steinbock
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