Vogelkäfig Trainingscamp

Zwei Vögel, die zusammen vier Flügel haben und trotzdem nicht fliegen können. Albert und Aladdin könnten diese zwei Tiere heißen. Nicht nur den Anfangsbuchstaben ihres Namens scheinen sich die beiden Figuren in Isabelle Lehns Debütroman „Binde zwei Vögel zusammen“ zu teilen. Aber erstmal der Reihe nach:

Albert, angehender Journalist, nimmt zu Recherchezwecken und aus finanziellen Gründen einen Job als Statist in einem Trainingslager für Afghanistansoldaten in Bayern an. Als Bafög-Schulden und das Studiumsende sich nähern, erhält er in der Mensa einen Flyer, der für den Statistenjob wirbt. Das klingt erstmal wenig nach Kriegssimulation und Trainingslager. Albert nimmt an der Info-Veranstaltung teil, die die Auszeit im Trainingslager als „Enduring Freedom“ sowie „interkulturelle Sensibilisierung“ anpreist. Es scheint zu wirken, denn nach ausführlicher Internet-Recherche entschließt er sich, Teil des Programmes zu werden.
Unter falscher Identität, als Aladdin, betreibt er ein Café am Ortseingang der fiktiven Stadt, auf einem Stück Land, das ihm gehört. Er übt Tag für Tag seine zugewiesene Rolle aus. Dazu gehört es, Patschu, die Sprache des Dorfes zu sprechen, wachsam zu sein, den eigenen Tod zu simulieren, die Identität nicht nur zu besitzen, sondern zu leben. Wenn der Supervisor, der Spielleiter sozusagen, „Dorfleben!“ ruft,  ist das ein Signal. Jeder Statist muss daraufhin seine Rolle ausüben, die Bewegungen „abspulen“ wie Aladdin/Albert es bezeichnet. Damit es den Soldaten möglich ist, die „Bewohner“ zu erschießen, tragen die Statisten ein Sensorgeschirr. Mal werden sie verwundet, mal erschossen. Wer tödlich getroffen wird, bekommt den Rest des Tages frei. Die Regeln des Dorfes scheinen schizophren, schrammen sie doch so nah an der Grenze zwischen Fiktion und Realität, spielen sie den Tod vor, nach dem wirkliche Soldaten nicht einfach wieder aufstehen können.

Manchmal konnten wir kaum unterscheiden, zwischen Kriegs- und Antikriegspropaganda, Mythos und Wirklichkeit, Einbildung und Realitäten, die nur der Wahrheit des Dorfes entsprachen.

Albert findet sich schnell in seine Rolle hinein und vergisst fast, dass er nicht wirklich Aladdin heißt. Was mit ihm gemacht wird und zu welchem Spiel er sich entschlossen hat, scheint er komplett zu verdrängen. So lange, bis er zurückkehrt, in seine eigentliche Lebensrealität, in seinen Alltag. Zurück in die gemeinsame Wohnung mit seiner Freundin. Dort kann er Aladdin nicht mehr abschütteln. Deutlich wird auch, wie schlimm und real die Kriegssimulationen gewesen sein müssen, da Albert nach seiner Rückkehr seine Trainingscampzeit reflektiert, als wäre er tatsächlich im Krieg gewesen. Er hat Gedanken, die auch von einem Kriegsveteranen stammen könnten.

Jeder von uns hatte so eine Liste im Kopf: Dinge, die er tun wollte, wenn er wieder zu Hause war, weil man die Freiheit nicht einfach zurückbekam.

©Eichborn Verlag

Der Supervisor hatte uns gewarnt: Nicht alle würden draußen gut klarkommen, wo die Regeln des Dorfes nicht mehr galten.

Im Laufe des Romans verwischt die Kontur, ist nicht mehr klar, ob Aladdin nun tatsächlich existiert und zu Albert zurückgefunden hat – so real sind Alberts Hirngespinste und vor allem Ängste, die sich in seiner Zeit im Militärcamp entwickelt haben.

Und dann schlägt Aladdin doch wieder zu. Aus dem Hinterhalt, wenn ich nicht damit rechne. Manchmal genügt es schon, dass irgendwo eine Autotür knallt oder ein Licht aufblitzt.

Die Lektüre ist gleichsam verwirrend, wie auch der Erzähler selbst verwirrt ist. Ist man in der einen Sekunde noch mit Albert und seinen Gedanken im Camp, sitzt man in der nächsten wieder in seiner Gegenwart, in der Kneipe mit Freunden, in „Sicherheit“. Doch Aladdin und sein Schatten sind immer noch da, umgeben Albert jede Sekunde. Um die Erlebnisse zu verarbeiten und vor allem seinem selbst gestellten Rechercheauftrag nachzukommen, versucht Albert aus seiner Materialsammlung, Notizen und Briefen, die er an seine Freundin sendete, eine Reportage zu schreiben. Es gelingt ihm durch seine beginnenden Wahnvorstellungen kaum.

Isabelle Lehn schreibt roh und klar von diesen Ereignissen und von Alberts Gefühlswelt. Auffällig sind immer wieder die Recherchemittel, die die Autorin benutzt. Zitate aus Zeitungen, politische Ereignisse. Dokumente, die Alberts Freundin zur Recherche benutzt und aufblättert, historische Berichte werden authentisch in Sütterlinschrift dargestellt. Ihr Roman vermischt außerdem dokumentarische und essayistische Inhalte miteinander, es wird über Anschläge und Gräueltaten berichtet, die tatsächlich so passiert sind:

In Nigeria tötet die Terrorgruppe Boko Haram vierzig Fußballfans beim Public Viewing, die Seuche Ebola bricht aus […] In Bayern wird ein Höhlenforscher gerettet, in Ägypten erhalten einhundertdreiundachtzig Muslimbrüder ihr Todesurteil, die Zitadelle von Erbil wird zum Weltkulturerbe erklärt […] und in Amsterdam wehen die Flaggen auf Halbmast, weil in der Ostukraine ein Malaysisches Passagierflugzeug abgestürzt ist.

Diese Informationsflut zeugt ebenfalls von Alberts Verwirrung. Er sagt selbst, dass er die Nachrichten nicht mehr sortieren, nicht richtig verarbeiten kann. Nach der Zeit im Camp weiß er nicht mehr, ob das alles real ist oder ob diese Geschehnisse nur ein Spiel sind. Die Toten nur Statisten in einer völlig verrückten und zusammenfantasierten Welt.
Während Alberts Innenwelt immer mehr ins Strudeln gerät, tritt Aladdin deutlich in den Vordergrund, geht nicht mehr weg. Albert holt ihn in sein Leben, geht mit ihm aufs Arbeitsamt, sieht in ihm plötzlich einen Flüchtling, dem er helfen will.

Soll er meine Papiere doch haben, meinen Ausweis, mein Monatsticket und meine Versicherungskarte. Ihn werden sie häufiger kontrollieren als mich. Einer, der wie Aladdin aussieht, muss damit rechnen, dass er jederzeit rausgepickt wird.

Letztendlich, existiert Aladdin nicht und bleibt nur als Sinnbild für die Irrungen und Wirrungen unserer Zeit.
Lehn selbst berichtet, dass sie zu ihrer Geschichte angestoßen wurde, nachdem sie mit einer Augenzeugin sprach, die in einem bayrischen Militärcamp die Rolle einer Afghanin spielte. Aus diesem Gespräch entstand zunächst die Kurzgeschichte Aladdin, CoB, für die sie den Prosanova Preis 2014 gewann. Die Autorin sagt in einem Interview außerdem: „Die Flüchtlingsgeschichte, die Albert für Aladdin imaginiert, wurde während des Schreibprozesses geradezu von der Realität überrollt.“

Und so überrollen auch Flüchtlingskrise, die Frage nach Identität in heutigen Zeiten sowie das gesellschaftliche Verhältnis zu Medien und Mediennutzung den Leser während der Lektüre immer wieder aufs Neue. Er wird heftig durchgeschleudert und bleibt mit offenen Fragen, ratlos, vielleicht sogar verzweifelt zurück. Gleichzeitig ist „Binde zwei Vögel zusammen“ ein Aufruf, über all diese Thematiken nachzudenken und das Unmögliche zu ermöglichen. Die Möglichkeit, dass auch zwei aneinander gebundene Vögel das gemeinsame Fliegen lernen können.

©ORF / Isabelle Lehn
©ORF / Isabelle Lehn

Isabelle Lehn wurde 1979 in Bonn geboren und lebt in Leipzig. Sie studierte Allgemeine Rhetorik, Ethnologie und Erziehungswissenschaft in Tübingen und Leicester, wurde im Fach Rhetorik promoviert und absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, wo sie heute zur Schriftstellerausbildung in der DDR forscht.

Lest hier unsere bereits veröffentlichten Artikel zur Autorin, ein Interview mit Isabelle Lehn sowie Berichte vom Bachmannpreis.

Ann-Kathrin Canjé
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