Der Zopf meiner Großmutter und die Seite 99

Alina Bronsky schafft es auf nur einer Seite ihres Romans Der Zopf meiner Großmutter unfassbar dicht die Geschichte einer Familie zu erzählen. Das gelingt ihr mit scharfen Charakterzeichnungen, wenigen Worten und mit Leerstellen, die dank ihrer klaren Sprache genauso lesbar werden, wie der tatsächlich gedruckte Text. Für den Page-99-Test wird die zufällige Seite 99 eines Buches aufgeschlagen und untersucht, um Rückschlüsse auf den ganzen Text zu ziehen, ohne das Buch gelesen zu haben. Er ersetzt keine vollständige Rezension. Ein Experiment.

Der Zopf meiner Großmutter – Alina Bronskys neuer Roman. Foto Karolin Kolbe

Der Großvater lag bereits auf dem Feldbett hinter der Wand, er war für seine Verhältnisse früh nach Hause gekommen.

Gleich der erste Satz auf Seite 99 in Alina Bronskys Der Zopf meiner Großmutter erweckt Aufmerksamkeit. Der Großvater – man beachte den Artikel, es heißt nicht etwa mein Großvater oder ihr Großvater – legt sich hinter eine Wand auf ein Feldbett. Herrscht Krieg, Armut, Platzmangel, eine provisorische Schlafsituation? Spät nach Hause kommt er anscheinend öfter, alt und gebrechlich kann er noch nicht sein. Das Bild, das sich beim Wort Großvater im Kopf auftut, steht dem entgegen. Ein Satz, der mit seinem Inhalt mehrfach irritiert.

Ich erreichte das Telefon zuerst.

Es gibt eine*n Erzähler*in, die in der Handlung mitdrinsteckt.  

„Hallo?“, sagte ich, wie sie es im Fernsehen taten.

Die Erzählinstanz scheint jung zu sein und am Telefon erwachsen zu spielen. ,Hallo‘ als typische Telefonbegrüßung der Großen, ein Kind, das aus dem Fernsehen lernt. Vielleicht fehlen die Vorbilder, die sprachliche Kenntnis der Älteren oder das Kind verbringt schlicht viel Zeit mit dem Gerät.

Die Großmutter rückte näher, ich hob den Blick und sah den Großvater unnatürlich blass im Türrahmen stehen.

Es ist etwas passiert, etwas Schlimmes, etwas, das der Großvater erwartet hat. Er weiß mehr als die anderen. Interessant, dass die Großeltern wahrscheinlich mit dem Kind zusammenleben. Die Betonung durch den Artikel der oder die anstelle von mein oder meine zieht sich über die ganze Seite 99. Naheliegend bleibt, dass ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, doch Alina Bronsky legt dem Kind eine sprachliche Distanz zu den Personen in den Mund, indem sie auf Possessivpronomen verzichtet. Die Großmutter klingt vielmehr wie ein Titel oder eine feste Instanz, ein unumstößlicher Eigenname.

„Warum weinst du, Vera?“, fragte ich und die Großmutter entriss mir den Hörer.

Das Kind kennt diese Vera, ist vertraut mit ihr, doch die Großmutter gibt ihm keine Chance, mehr herauszufinden. Ab hier nimmt die bis dahin sanft steigende Handlung an Fahrt auf, die Großmutter reißt den Hörer und damit den Rest der Seite 99 an sich.

„Jetzt trockne mal schön deine Tränen, Kindchen“, sagte sie. „Ich habe es damals auch überlebt, und deine Mama hat ein breites Becken. Was sagst du? Wie viel Wasser? Blut? Hör auf zu nuscheln, ich verstehe kein Wort. Leg ihr ein Handtuch unter. Ist sie bei Bewusstsein? Na bitte. Dann ist es noch nicht so schlimm. Ich schicke hier den Opa los. Er soll sie ins Krankenhaus fahren. Was heulst du schon wieder? Nein, hör mir doch zu, sie stirbt nicht. Wieso meine Schuld? Du bist dehydriert, Kindchen, und deine Mama vermutlich auch, so, wie sie da im Hintergrund brüllt. Trinkt beide etwas. Die alte Margo kommt mit dem Opa und nimmt dich zu uns nach Hause. Nein kannst du zu deiner eigenen Oma sagen, Kindchen, ich kenne dieses Wort nicht.

Ein explosiver Dialog, der besonders durch die Leerstellen besticht. Die Autorin macht Veras Stimme hörbar, ohne auch nur eine einzige direkte Rede zu verwenden. Es geht um die Geburt einer Frau, die bereits eine Tochter Vera –­ hat. Das verunsicherte Mädchen, das nicht die Enkelin ist, ruft in völliger Hilflosigkeit an, die Situation scheint kritisch. Trotz allem behält die Großmutter ihren resoluten Ton bei, sie gibt Befehle, spricht in Infinitiven und knappen Fragen, kritisiert Vera und spielt die für das Mädchen so schlimme Situation herunter. Das wird besonders an dem Satz „Du bist dehydriert, Kindchen, und deine Mutter vermutlich auch“ deutlich. Dass es hier um mehr geht als um Dehydration, das lässt sich beim Lesen kaum ignorieren. Es ist beißender Spott, mit dem die Großmutter versucht, das Mädchen zu beruhigen. Ein Nein kennt sie nicht. Hier wird deutlich: die Großmutter trifft die Entscheidungen in der Familie, denn sie schickt ungefragt den Großvater los, der bis dahin weiter blass im Türrahmen steht.

Sie warf den Hörer auf die Gabel und wirbelte in sinnloser Umtriebigkeit durch die Wohnung. Der Großvater stand immer noch im Türrahmen und rührte sich nicht. Ich fragte mich, ob man gleichzeitig tot sein und aufrecht stehen konnte.

Das Ende der Seite 99 trifft die Leserin mit sprachlicher Wucht. Hier offenbart sich endgültig Alina Bronskys Talent in einfachen Sätzen klare Charaktere und Situationen zu zeichnen. Die Dualität der dynamischen Großmutter und des statischen Großvaters, die sich bis hierhin vermuten ließ, gießt sie in ein so klares Bild, dass die Figuren vor uns zu stehen scheinen. Auch das erzählende Kind tritt erneut aus dem Schatten der Großmutter heraus, die fast die ganze Seite allein in Anspruch genommen hat. Doch auch die Abwesenheit von Großvater und Kind während des Telefongespräches sind Teil dieser Ausarbeitung der Figuren und ihrer Beziehungen.

Die Seite 99 von Großmutters Zopf. Foto Karolin Kolbe

Der letzte Satz ist poetisch formuliert und führt fort, was sich bereits im ersten Satz dieser Seite spüren ließ: paradoxe Verhältnisse, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassen. Der Großvater als stiller und doch wissender Beobachter eröffnet und schließt die Seite 99. Alina Bronsky spielt mit Leerstellen, indem sie im Telefongespräch weder die Worte von Vera wiedergibt noch durch Satzzeichen, Pünktchen oder Absätze deutlich macht, wann die andere antwortet. Sie überlässt es ihrer Leserin, dies herauszuhören und das funktioniert. Die Szene nimmt bis zum Ende an Geschwindigkeit zu, die von dem Kind mit Blick auf den Großvater wieder ausgebremst wird. Alina Bronsky gelingt es auf einer Seite bei einem Satzspiegel, der nur 241 Worte zulässt, eine klare Szene zu erschaffen mit bis aufs kleinste Detail durchplanten Figuren. Dies erreicht sie ohne viel Beschreibung. Sie lässt die Figuren beobachten und sprechen und enthüllt eine Familiendynamik, die kaum dichter hätte sein können. Diese Seite 99 ist ein Drama mit Exposition, Höhepunkt und Fall Richtung Katastrophe oder Lösung des Problems. Der Ausgang des Dramas bleibt für diesen Moment noch offen. Es stellt sich die Frage, ob das Buch die Spannung der Seite 99 auch auf den anderen 213 hält. Es wäre Alina Bronsky zuzutrauen.

Alina Bronsky: Der Zopf meiner Großmutter, Kiepenheuer & Witsch 2019.


Karolin Kolbe
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