Ditch Platon!

Es knallt. Rot auf lila, Philosophie auf Frauen. Die eine oder der andere mag kurz stutzen, fallen uns doch vor allem männliche Namen ein, wenn wir nach den philosophischen Größen der Geschichte gefragt werden. Das sind die beiden jungen britischen Philosophinnen Rebecca Buxton und Lisa Whiting leid und starten einen Crowdfunding-Aufruf mit eben jener Frage: Wie viele Philosophinnen kennen wir eigentlich? 

Die Ratlosigkeit ist erschreckend, nicht eine der befragten Personen vermag eine Philosophin aufzuzählen. So findet das unkonventionelle Buchprojekt großen Anklang und rasch stehen genügend Mittel zur Verfügung. Ergebnis ist die Anthologie Philosophinnen, die dieses Frühjahr in deutscher Übersetzung erschien und weiblichen Philosophinnen jene breite außeruniversitäre Anerkennung schenkt, die sie verdient haben.

© Mara Hartung

Wir starten im antiken Griechenland, reisen von China über Kaschmir bis nach US-Amerika der Gegenwart. Die Zeitspanne: von 400 v. u. Z. bis zum heutigen Tag, chronologisch sortiert. Auf unserer Reise durch die Vergangenheit begleiten wir 20 Philosophinnen, bestaunen ihre Biografien, erfahren von ihrem unermüdlichen Forschungsgeist und den Interessen, die sie dazu trieben, existenziellen philosophischen Fragen nachzugehen. Zugleich lesen wir von ihrer Selbstwahrnehmung und ihren Zweifeln, die nicht selten dazu beitrugen, dass sie sich selbst gar nicht als Philosophin verstanden. Oder, wie Hannah Arendt, die Bezeichnung sogar aktiv zurückwiesen, in der Furcht, ihren Ruf als ernstzunehmende politische Theoretikerin zu riskieren. 

Die beiden Herausgeberinnen Buxton und Whiting entscheiden sich bewusst, dieser Wahrnehmung zu trotzen. In der kurzen Einleitung begründen sie, weshalb ein breiter Philosophiebegriff zentral für die Aufarbeitung eines weiblichen Kanons sei.  

Im Folgenden greifen wir absichtlich eine sehr weit gefasste Definition von Philosophie auf, da wir glauben, dass ein Teil des Problems, warum Frauen bisher aus unserer Disziplin ausgeschlossen wurden, darin besteht, dass viele von ihnen lediglich als »Aktivistinnen« oder »gelehrte Damen« betrachtet worden sind. Dies hat zum vorherrschenden Bild des weißen männlichen Philosophen geführt, der von seinem Sessel aus denkt. Stattdessen ist es nun an der Zeit, anzuerkennen, dass diese Frauen, mit ihrer klaren, intellektuellen Strenge, ihrem Hinterfragen und ihren Einsichten den Titel »Philosophinnen« ebenso sehr verdient haben.


Die Programmatik setzt sich schon zu Beginn des Werkes durch. So wählen die beiden Herausgeberinnen die literarische Figur Diotima als erste Philosophin des Bandes. Diotima tritt als eine von wenigen Frauen in Platons Dialogen auf, jedoch nur als Gesprächsgegenstand des Philosophen Sokrates, der ihre weisen Ideen vor seinen männlichen Kollegen rezitiert. Ihre reale Existenz konnte bisher nicht bewiesen werden, gesteht Autorin Zoi Aliozi ein. Völlig zurecht beklagt sie jedoch, dass sich die philosophische Geschichtsforschung bisher damit zufriedengegeben habe, Diotima als mythische Figur oder literarisches Stilmittel abzustempeln. 

Doch selbst wenn Platon Diotima nur erfunden hätte, so verdient sie als wichtige weibliche Stimme der Philosophiegeschichte dennoch unsere Anerkennung. Immerhin hatte ihre Perspektive einen großen Einfluss auf die Argumentationen Sokrates’ und damit auf die gesamte uns heute bekannte Philosophie. Vielleicht können wir uns also darauf einigen, dass unsere erste Philosophin immer eine Art Mysterium bleiben wird.

Die klare Stellungnahme Aliozis zeigt exemplarisch, wie wertvoll die Philosophinnen von den jeweiligen Beitragsautorinnen eingeordnet werden. Dazu zählen bewundernde Kommentare wie auch kritische Bemerkungen zu Werk und Biografie. Eine konstruktive Einordnung gelingt unter anderem Herausgeberin Rebecca Buxton, wenn sie die Rassismuskritik in Verbindung mit Arendts Werk kritisch einordnet. Wie persönlich und anerkennend die Kommentare sein können, zeigt Autorin Nima Dahir in ihrem Kapitel zu der islamischen Philosophin Azizah Y. al-Hibri. Sie betont nicht nur deren zentrale Rolle im akademischen Diskurs über Frauen im Islam, sondern lässt uns ebenfalls wissen, welch hohen Wert sie al-Hibri für ihr eigenes Selbstverständnis als muslimische US-Amerikanerin beimisst. 

Bei 20 verschiedenen Autorinnen, die über 20 verschiedene Philosophinnen schreiben, ist zu erwarten, dass die kritische Einordnung mal mehr, mal weniger produktiv gelingt. Enttäuschender erscheinen zum Beispiel die Kapitel zu Harriet Taylor Mill und Iris Marion Young. Autorin Helen McCabe verliert sich in einer Beschreibung der atemberaubenden Schönheit Mills, bei der ich mich frage, inwiefern diese relevant für das Schaffen der Philosophin ist. Man könnte denken, die Autorin verfalle dem überflüssigen male gaze jener Beiträge der Philosophiegeschichte, die Philosophinnen auf ihre Beziehungen zu männlichen Zeitgenossen reduzieren. Etwas einseitig erscheint mir zudem Désirée Lims Beitrag zu der US-amerikanischen Philosophin Young, in dem sie akribisch versucht, die schwierige Kindheit Youngs als einzige Quelle ihrer philosophischen Bestrebungen herzuleiten.

Trotz der Einwände werden alle Beitragsautorinnen den jeweiligen Philosophinnen insgesamt gerecht. Dabei hilft, dass die Autorinnen zumeist interdisziplinär forschen und Expertinnen zu der jeweiligen Philosophin oder Philosophierichtung sind. Der Großteil von ihnen lässt sich in der akademischen Philosophie verorten, weitere häufig vertretene Schwerpunkte sind die Politikwissenschaft, Gender Studies oder der feministische Aktivismus. 

Abseits von der Fachrichtung der Beitragsautorinnen drängt sich die Frage auf, über wen von wem gesprochen wird. Die Einleitung der Anthologie liefert erste Hinweise, dass Buxton und Whiting sich mit dieser Frage beschäftigt haben.

Nicht-weiße Frauen sind in der Philosophie immer noch stark unterrepräsentiert, und nur sehr wenige Führungspositionen werden mit Menschen aus Minderheiten besetzt.

Ihr Bewusstsein für mangelnde Intersektionalität lässt sich insbesondere in der Auswahl der Beitragsautorinnen erkennen, die zwar mehrheitlich weiß ist, jedoch auch 8 BIPoC-Autorinnen integriert. Diese widmen sich primär den BIPoC-Philsophinnen, die in den Band aufgenommen wurden. So lobenswert diese Ansätze auch sind, sie zeigen zugleich, dass wir noch am Anfang der Aufarbeitung eines intersektionalen und postkolonialen Philosophiekanons stehen. Zwar zeigt die Auswahl zeitgenössischer Philosophinnen, dass Gegenwartsphilosophie durchaus divers ist, dennoch dominieren weiße, westliche Stimmen aus Europa und den USA den geschichtlichen Kanon. Dies soll keineswegs die Relevanz der Anthologie schmälern oder die erkennbaren Bemühungen zu mehr Diversität infrage stellen. Nichtsdestotrotz bleibt die Frage offen, wie die Diversität des Kanons weiter ausgebaut werden kann und welchen Stimmen der nicht-westlichen Philosophie ein Platz zusteht.

Philosophinnen ist ein Einführungswerk, leicht zugänglich und überaus unterhaltsam geschrieben. Es funktioniert für Menschen wie mich, die bisher nur wenig mit Philosophie am Hut hatten und ihr eher zufällig über den Weg gelaufen sind. Es funktioniert ebenso für Philosophiestudierende, die einen ersten Blick in die weibliche Welt der Philosophie erhaschen wollen, der ihnen im universitären Kontext so oft verwehrt bleibt. 

Wer schon viel Vorwissen mitbringt und sich eingehend mit dem Werk der vorgestellten Philosophinnen beschäftigen möchte, wird wohl eher enttäuscht. Zwar bietet jedes Kapitel eine kurze Auflistung mit weiterführender Literatur, die die wichtigsten Schriften der jeweiligen Philosophin und relevante Forschungsbeiträge versammelt. Zudem ist der Band um ein Verzeichnis angereichert, das weitere 94 Philosophinnen namentlich aufführt. Jedoch bleibt er eine Einführung und dient der ersten Orientierung.

Die Anthologie lädt zum Schmökern in der weiblichen Geschichte der Philosophie ein. Dabei folgt sie einer klaren Mission. Im Mittelpunkt steht die zentrale Frage nach Machtstrukturen und Privilegien: Wer darf sich Philosoph:in nennen und wird als solche:r von wem anerkannt? Inwiefern lassen wir uns von vermeintlich objektiven Vorstellungen täuschen, die nur jenen dienen, die schon immer die Deutungshoheit besaßen? Diese Fragen sind nicht neu, sie prägen disziplinübergreifend die Grundlage für die Aufarbeitung eines weiblichen Kanons, der sich immer mehr Fachrichtungen widmen. Zu diesem Vorhaben trägt Philosophinnenbei und leistet einen wichtigen Beitrag zur Sichtbarmachung und Konservierung weiblicher Beiträge der vergangenen und heutigen Philosophie.

Rebecca Buxton & Lisa Whiting (Hg.): PHILOSOPHINNEN. Von Hypatia bis Angela Davis: Herausragende Frauen der Philosophiegeschichte, mairisch Verlag, 2021.

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