Zwischen Tagebuch und Theoriesammelsurium: Ich denk, ich denk zu viel

Eine Hymne an das Butterbrot, Jean-Paul Sartre über das Schwindelgefühl und Bologna zwischen Bildungsreform und Songtext. All das und noch viel mehr vereint Nina Kunz in ihrem Buch Ich denk, ich denk zu viel. Auf 180 Seiten lädt uns die Kolumnistin in ihre Gedankenwelt ein, teilt ihre Krisen, Zweifel und Sehnsüchte und zeichnet ein facettenreiches Bild unserer Gegenwart, das vor allem zeigt, dass wir viel zu viel nachdenken.

© Mara Hartung

Worum geht es denn jetzt genau?

Leistungsdruck, Workism, Weltschmerz, Tattoos, glühende Smartphones, schmelzende Polkappen & das Patriarchat. 30 Texte zur Gegenwart.

So vielfältig die Schlagworte des Klappentexts, so zahlreich die Themen, die Nina Kunz anreißt. Es geht um Arbeit und Identifikation, um Leistung und Versagensängste. Um Identität und die Frage, wer diese prägt. Und um den großen Schrecken namens Internet, der uns täglich die Zeit zwischen den swipenden Fingern zerrinnen lässt. Können wir uns überhaupt noch auf eine Sache konzentrieren, oder haben wir auch im Kopf immer 10 Tabs auf einmal geöffnet? 

„Leopardenleggins zu Lackschuhen“

Die Liste der Themen ließe sich ewig weiterführen, denn die 30 Kolumnen streifen zahlreiche Widersprüche und Alltagsprobleme unserer Gegenwart. Die Spanne der Texte beginnt mit sehr persönlichen Geschichten über die Suche nach dem eigenen Vater und das ambivalente Verhältnis zu der Stadt Zürich; sie reicht über Kolumnen über die Zeit an der Universität bis hin zu einem Abriss wichtiger feministischer Literatur. Dabei gewährt die Journalistin Einblicke in ihre persönliche Wahrnehmung, die wir mal mehr, mal weniger mit ihr teilen. So habe ich mich von ihrem Text Bravo Girl über Schönheitsideale und Erwartungen an Frauen besonders abgeholt gefühlt. Das Ende des Kapitels zeigt, wie persönlich und universal zugleich die Erfahrungen der Autorin sind:

Ich will Leopardenleggins zu Lackschuhen tragen. An einem Montagmorgen. Ich will auf Autofahrten laut zu alten Elton-John-Songs mitgrölen. Ich will den Mittelfinger zeigen, wenn mir auf der Straße jemand zuzwinkert: „So ein schönes Gesicht … lächle doch mal!“ Ich will mit meiner Großmutter Tomaten anbauen und nie mehr Angst davor haben, als „kompliziert“ zu gelten. Ich will eloquenter Barthes-Zitate spitten als jeder Besserwisser im Kolloquium. Ich will streiken. Ich will nie mehr über meine schwabbeligen Oberarme nachdenken. Ich will laut loslachen, wenn ich die einzige Frau in der Redaktionssitzung bin und sich alle zu mir umdrehen, nur, weil es um KiTaS geht. Ich will hungrig sein und essen – bis ich mir satt und glücklich den Bauch halte und denke: Endlich.

Wir lesen von sehr konkreten Wünschen und Erlebnissen, die an unsere eigenen appellieren. Viele Frauen haben unangebrachte Anmachsprüche über sich ergehen lassen müssen und erinnern sich sofort an Situationen zurück, in den sie gerne den Stinkefinger gezeigt hätten. Auch den täglichen Kampf mit dem eigenen Körper kennen viele zu gut, wie auch das Gefühl, immer zu viel zu sein. So gebührt es sich für eine Frau schließlich nicht. 

Bewusstsein vs. Realität

Diese Beobachtungen sind keinesfalls neu; wir sind uns den Missständen sogar bewusst. Die Stärke der Texte besteht vielmehr darin, den Zwiespalt zwischen Bewusstsein und Realität auf den Punkt zu bringen und so die Widersprüchlichkeit unseres eigenen Kampfs gegen Geschlechterklischees zu entlarven:

Eigentlich will ich im Alltag gar nicht über mein Frausein nachdenken. Lieber tanze ich in der Küche zum Rap von Princess Nokia und tu so, als würde ich über allen Stereotypen stehen. Aber damit veräpple ich mich nur selbst. Ich stehe nämlich über gar nichts. Wenn ich ehrlich bin, plagt mich eine fundamentale Angst davor, Raum einzunehmen. Das ist das Grundgefühl meiner Geschlechter-Performance.

Nina Kunz besitzt großes Talent, mit ihrer klaren und unverblümten Sprache die Wurzel der Probleme freizulegen. Ihre Beobachtungen sind präzise, allzu oft fühlte ich mich ertappt oder hatte das Gefühl, mir wird aus der Seele gesprochen. Sicherlich hat das etwas damit zu tun, dass wir der gleichen Generation angehören, ich mich in einer analogen Lebensphase befinde und in einem ähnlichen Milieu bewege und deshalb viele Gedanken gut nachvollziehen kann. Denn es ist auch ein Buch über das Erwachsenwerden, das doch erst so richtig los geht, wenn wir den schützenden Kosmos der Universität verlassen. 

Das Studium ist die Zeit, in der man noch alles vor sich hat, es ist eine Blase, in der man sich einreden kann, dass das Beste noch kommt und alles, was jetzt ist, noch nicht so richtig zählt. Es ist eine Testphase, in der man die grauenhafte Pubertät hinter sich hat – sich aber noch ein wenig vor dem Ernst des Lebens drücken kann. 

Wursteln – eine Krankheit der Millenials

In der Generationenfrage trifft insbesondere die KolumneWursteln ins Schwarze der Millenial-Mentalität. Auf lediglich zwei Seiten berichtet der Text von einem Verzetteln in kleineren Projekten, das aus der Angst entspringt, die eigenen Träume zu groß werden zu lassen. Es ist beeindruckend, in welcher Kürze und Präzision Nina Kunz die Tendenz ihrer eigenen Generation auseinandernimmt, sich alles offen zu halten und bloß nicht auf eine Sache festzulegen.  

Als Kind posaunte ich in die Welt hinaus, dass ich einst mit der NASA ins All fliegen werde. Inzwischen zahle ich Altersversicherungs-Beiträge und rätsle beim Feierabendbier, wie ich all die Projekte unter einen Hut bringen soll, bei denen ich so halb dabei bin. Der sinnstiftende Traum hat sich verzogen, und an seine Stelle ist das Wursteln getreten, dieses farblose Dauerbeschäftigtsein, das ich bei so vielen Gleichaltrigen beobachte.

„Spinat, wachs jetzt, ich will dich morgen essen!“

Doch Ich denk, ich denk zu viel ist mehr als reines Abrechnen mit Generationsklischees und Alltagsängsten junger Menschen. Es geht ebenso um große, universale Themen, die uns alle betreffen, ganz gleich welchen Alters wir sind, welchen Milieus wir angehören und welche Weltanschauung wir vertreten. Sehr berührend ist ein Text über Geduld, der am Ende des Bandes steht und in dem die Großmutter der Autorin eine unglaubliche Antwort auf die Frage gibt, was Geduld für sie bedeutet:

„Für mich ist die Geduld eine Grundhaltung gegenüber dem Leben, die besagt, dass man Respekt vor der Schöpfung hat. […] Wenn ich Beeren im Garten habe, mache ich Konfitüre daraus. Wenn die Tomaten reif sind, werden sie zu Sugo eingekocht. Mein Keller ist voll mit Einmachgläsern, weil ich alles wertschätze, das wächst.“

So gehe ich mit dem Gefühl aus Nina Kunz‘ Buch, zum ersten Mal verstanden zu haben, was Geduld bedeutet. Und warum meine häufige Ungeduld mit Privilegien zu tun hat. Dafür möchte ich mich bei der Autorin bedanken und den Band allen ans Herz legen, die schon zu viel nachdenken, sich aber dennoch nach ein paar neuen Impulsen sehnen.

Nina Kunz: Ich denk, ich denk zu viel. Kein & Aber, 2021.

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