„Don’t patronize us!“

Das zweite Buch des Booker-Preisträgers Aravind Adiga bedrückt, verunsichert und transportiert dabei eine gehörige Portion Pessimismus. Ein Reiseführer durch eine zerrüttete Gesellschaft.

von Fabian Schroer

Foto: Fabian Schroer

Häufig ist es für Autor*innen nahezu unmöglich, beim zweiten Buch die hohen Erwartungen der Leserschaft zu erfüllen, besonders, wenn das Erstlingswerk so einschlägt wie im Falle Aravind Adigas. Sein Debütroman The White Tiger, der die nervenaufreibende Erfolgsgeschichte eines indischen Dorfjungens erzählt, war im Jahre 2008 mit dem Booker Prize ausgezeichnet worden. Nichtsdestotrotz lieferte Adiga noch im selben Jahr in vielerlei Hinsicht ein zweites Mal. Auch in Between the Assassinations rechnet der Autor schonungslos mit der indischen Gesellschaft ab. Doch dieses Buch, das zu Unrecht weit weniger Aufmerksamkeit bekam, ist anders als der weiße Tiger – distanzierter und in gewisser Weise auch tiefgründiger. Adiga malt ein verschwommenes, vieldeutiges Bild eines Landes und dessen Ungerechtigkeiten und beschämt damit nicht nur seine indische Leserschaft, sondern, wenn nicht sogar noch mehr, die internationale, ach so weltoffene Mittelschicht.

Zwölfs Schicksale in Kittur

Between the Assassinations portraitiert in zwölf lose zusammenhängenden
Kurzgeschichten die Bewohner*innen der fiktiven südindischen Stadt Kittur, einer „Jedermannstadt“, einem Abbild der indischen Gesellschaft mit all ihren Abgründen. Wohl als ein Ergebnis von Adigas fastjournalistischem
Wirklichkeitsanspruch finden wir hier einen subtilen, sozialkritischen
Realismus. Der Autor liefert eine romanhafte Sammlung von Momentaufnahmen eines Landes im Umbruch. Alle geschilderten Ereignisse sind eingebettet in die Zeit zwischen der Ermordungen Indira Ghandis im Jahre 1984 und der ihres Sohnes Rajiv Ghandi 1991, einer Zeit der politischen Unruhe und Ungewissheit. Parabelhaft erzählt das Buch aus dem Leben der Unglücklichen, der Benachteiligten, der Ausgeschlossenen, der Verzweifelten und Vergessenen. Alle Figuren leiden unter einer anderen gesellschaftlichen Bürde, werden Opfer von Rassismus, Kastendiskriminierung, Ausbeutung oder Korruption. Anders allerdings als in seinem ersten Roman schrieb Adiga hier keine Geschichte des Widerstands.

Armut, Machtlosigkeit, Resignation

Die Schicksale seiner Protagonist*innen sind geprägt von Machtlosigkeit und Resignation. Chenayya, der Lastenradfahrer, versucht in Kapitel acht seiner Armut zu entkommen und engagiert sich als Wahlkampfhelfer für eine große politische Partei. Als seine Vorgesetzten ihn nach erfolgreicher Arbeit nicht bezahlen und stattdessen verhöhnen, gibt er sein Streben nach einem besseren Leben auf und fügt sich seinem traurigen Schicksal. Eine andere Geschichte handelt von Gururaj, Journalist bei einer lokalen Tageszeitung, der von einer Fahrerflucht mit Todesfolge erfährt. Nachdem sein Verleger ihm verbietet, die Story zu veröffentlichen, da hochrangige Persönlichkeiten in die Tat verwickelt sind, gibt sich Gururaj dem Wahnsinn hin und verliert schließlich seinen Job. An wiederum anderer Stelle im Buch geht es um George, den „mosquito man“, der Pestizide in den Gärten reicher Leute versprüht und eine Festanstellung im Hause einer alleinstehenden Lady bekommt. Da diese ihn gut behandelt, beginnt George langsam seine negative Einstellung gegenüber der Oberschicht zu überdenken, wird jedoch letztendlich herbe enttäuscht. Das Motiv des Aufgebens zieht sich durch das Buch wie ein roter Faden. Adigas Figuren verzweifeln, sie fügen sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten oder werden hineingezwungen. Die kleinsten Anzeichen von Rebellion werden im Keim erstickt. Mit erhobenem Finger deutet der Autor dabei in Richtung einer privilegierten Mittelschicht, in Richtung der Vetternwirtschaft in der Politik und der Korruption in Polizei und Ämtern. Darüber hinaus kommentiert Adiga jedoch seine eigene Rolle in dieser ungleichen Gesellschaft und somit auch die seiner westlichen (oder westlich orientierten) Leserschaft.

Reiseführerironie

Vor jedem Kapitel schildert das Buch im Stil eines Reiseführers Kitturs
spannende Sehenswürdigkeiten und damit den Schauplatz der nächsten Geschichte – und ihrer wenig erfreulichen Handlung. Die bedrückenden Geschehnisse in den Kurzgeschichten stehen in krassem Kontrast zu den anregenden Tourismus-Informationen. Mit viel schwarzem Humor und Ironie wird man eingeladen, das Hafenviertel zu besuchen, „where dozens of sweatshops operate in dingy old buildings“ oder einen alten Portier, um eine Führung durch Kitturs berühmten Leuchtturm zu bitten.

If visitors are poorly dressed or speak to him in Tulu or Kannada, he will say: ‘Can’t you see it’s closed?’ If visitors are well-dressed or speak English, he will say ‘Welcome’.

Auf brillante Weise verdeutlicht Between the Assassinations die
Unvereinbarkeit der Realitäten seiner Figuren und seiner Leser*innen, lässt den einen oder die andere womöglich ihren letzten Urlaub hinterfragen. Trotzdem verliert das Buch dadurch nicht an Sympathie. Die glaubwürdigen Charaktere und deren Erlebnisse ziehen einen durchweg in ihren Bann. Adiga selbst, der als Sohn eines Arztes in Mangalore aufwuchs (ebenfalls eine mittelgroße südindische Stadt), studierte englische Literatur in New York City und Oxford, verbrachte einen Großteil seines Lebens in Australien und den USA und arbeitete langjährig als Auslandskorrespondent für die Financial Times und das TIME Magazine.
Weniger working-class kann man also eigentlich nicht sein. Aber wie der Autor mal dem Guardian erklärte:

For me the challenge of a novelist is to write about people who aren’t anything like me.

Das hat er mit seinem zweiten Buch wohl geschafft. Seine Welt und die seiner Charaktere wirken in vielerlei Hinsicht geradezu gegensätzlich. Adiga gelingt es darüber hinaus immer wieder, sich selbst in seine Werke einzubringen, ob nun personifiziert oder vertreten durch seine Klasse. So ist es doch nur zu bezeichnend für diesen sozialkritischen Roman, dass gerade ein junger Journalist Ziel von Chenayyas unbändiger Wut über die heuchlerische Elite wird.

Don’t patronize us, you son of a bitch (schreit der Lastenradfahrer) I spit on your newspaper. (Und weiter): You keep us like this, you people from the cities, you rich fucks. It is inyour interest to treat us like cattle! You fuck! You English-speaking fuck!

 

Anders als The White Tiger

Between the Assassinations ist in erster Linie keine Geschichte über Armut und das harte Leben der Armen. Vielmehr ist es eine Geschichte von Verantwortung und deren Missachtung durch die globale Mittelschicht. Das Buch ist vielleicht keine Weltliteratur, was auch immer das sein mag, einige Geschichten sind schwächer als andere. Dennoch schafft es Adiga durch seinen ironischen, trockenen Stil der ansonsten schweren Thematik einen Hauch von Leichtigkeit abzugewinnen. Höchstens einige Fans seines ersten Romans werden vielleicht ein wenig enttäuscht sein. Wer einen spannungsgeladenen Sozial-Thriller wie The White Tiger erwartet, ist hier an der falschen Adresse.

 

Aravind Adiga: Between the Assassinations, Free Press 2010.

Aravind Adiga: Zwischen den Attentaten. Geschichten aus einer Stadt, C.H. Beck 2009.

 

 

 

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