Ein Taubenleben

Eine zermatschte Taube auf der Straße, das ist für Lois das Sinnbild von gescheiterter Existenz. Als sie neun Jahre alt ist, wird sie so zum ersten Mal mit dem Tod konfrontiert. Ihr Vater hat ihr das erklärt: wenn Tauben sterben wollen, dann werfen sie sich vors fahrende Auto. Inzwischen ist Lois Anfang dreißig, an die tote Taube denkt sie noch manchmal und muss sich plötzlich selbst mit Gedanken an den Tod auseinandersetzen. Paulina Czienskowski widmet ihren Debütroman Taubenleben einer Protagonistin, die mit großem Anlauf versucht, herauszufinden, wer sie eigentlich ist.

Eine überfahrene Taube als Sinnbild gescheiterter Existenzen. Foto: Karolin Kolbe

Lois lebt ein Leben, das sie in Ordnung findet. Sie hat einen Freund, ihre beste Freundin Mirabel und eine Mutter, mit der sie emotional nicht so richtig eine Verbindung fühlt. Als sie dann einen ungeschützten One Night Stand hat, kommt ihr ein Gedanke: was, wenn es jetzt vorbei sein soll? Sie macht einen AIDS-Test, auf die Ergebnisse muss sie eine Weile warten.

Ich bin mir sicher, dass genau das mein kosmischer Ausgleich sein wird. Dieser eine Schicksalsschlag, über den Mirabel und ich schon so häufig gesprochen haben. Wir glauben: Jeder muss im Leben irgendeinen Bruch erleiden, damit das Leid der Welt gleichmäßig auf alle verteilt ist. Niemand kann einfach so durchs Leben tänzeln, ohne auch nur ein einziges Mal gehörig gelitten zu haben, während ein anderer den Mund dauerhaft voller Scheiße hat. Es wäre zu ungerecht.

Lois ist der Auffassung, dass sie positiv getestet wird, dass das ihr Schicksalsschlag wird. Das ist interessant, hat sie doch bereits als Kind ihren Vater verloren und lebte von da an in einer Wohnsiedlung in kühler Symbiose mit ihrer Mutter. Sie hat ihr Päckchen schon bekommen, sollte man meinen. Doch Lois sieht das offenbar anders und klärt in der Zeit, in der sie auf die Ergebnisse wartet, zwei Beziehungen: die zu ihrer Mutter und die zu ihrem Freund.

Die Mutter, der Freund

Wenige Figuren im Roman bekommen Namen, die Mutter und der Freund gehören nicht dazu. Zu ihrer Mutter hatte Lois bereits vor dem Tod ihres Vaters eine weniger enge Beziehung, nach seinem Tod haben sie sich noch stärker voneinander entfernt. Ihr gemeinsames Leben bestand seitdem aus schweigsamen Abendessen und wenigen nahen Momenten.

Dass meine Mutter wirklich einmal emotional geworden wäre, erinnere ich kaum. Für sie durfte es keine Probleme im Leben geben und wenn, dann war für sie der Weg nicht etwa, sich darin zu suhlen, sondern sie so schnell wie möglich zu eliminieren. Am besten durch bloße Ignoranz. Reden, das lag ihr nie.

Und trotzdem gelingt Lois eine Annährung, die sie selbst überrascht. Mit ihrem Freund, mit dem sie eine angenehme Beziehung führt, passiert das Gegenteil, es kommt zur Entfernung.

Liebe, wieder Liebe

Die Liebe ist ein zentrales Thema in Paulina Czienskowskis Taubenleben. Klar, da ist auch die romantische Liebe, aber vor allem die zur besten Freundin, zu den Eltern, zu sich selbst. Als Kind in der Schule sollte sie einen Aufsatz über die Liebe schreiben, die Rückmeldung der Lehrerin war da noch „Thema verfehlt, in deinem Text kommt kein einziges Mal das Thema ,Liebe‘ vor“, das ist jetzt anders. Denn man merkt, Lois, die immer auf der Suche nach Liebe ist, lernt sie mehr und mehr kennen. Langsam tastet sie sich heran, auch wenn das heißt, manche Menschen von sich stoßen zu müssen, um sich selbst entfalten zu können. Gerade dann hat sie Angst, denn Lois innerer Grundton ist gespickt mit Selbstzweifeln und immer wieder den Gedanken, etwas falsch gemacht zu haben.

Und dann glaube ich, Fehler gemacht zu haben – viele Fehler. Ich weiß nie, welche. Zumindest aber habe ich irgendetwas außerordentlich Wichtiges vergessen, denke ich. Etwas, das mein bisheriges Leben hätte ganz anders aussehen lassen können. Noch kein einziges Mal kam ich dahinter, was es war.

Taubenleben ist ein konsequent personal erzählter Roman. Das ist gut, so hält uns die Protagonistin zu allen anderen Figuren auf Distanz. Eine gewisse Entfernung bleibt aber auch zu Lois, die gewollt scheint. Nahe kommt man ihr, wenn sie aus der Vergangenheit erzählt, von ihrem Vater, der am Klavier sitzt und laienhaft spielt. Von ihrer Freundin Mirabel, die ebenfalls in der Wohnsiedlung lebt und mit der sie aus großer Höhe in die Tiefe spuckt. Die gemeinsamen Drogenerfahrungen mit älteren Männern in einem teurem Auto wirken dann aber doch etwas zu heftig.

Lois Blick auf die Welt

Schön ist, wie genau die Figur Lios alles um sich herum analysiert: ihre Beziehung zu ihrem Partner, zu ihrer Mutter, zu Mirabel, aber auch die einzelnen Menschen in der S-Bahn, die Gemeinsamkeiten und die Einsamkeiten in einer anonymen Gruppe.

Wie viel Gemeinsames wir wohl alle miteinander haben. Liebeskummer. Geldsorgen. Hunger. Kater. Streit. Ist es nicht verrückt, dass jeder immerzu über irgendetwas im Leben nachdenkt, irgendetwas fühlt, genau hier und jetzt?

Paulina Czienskowski beschreibt in zurückgenommener Sprache das Problem des zusammen alleine seins und trifft damit auf ein Gefühl, das sicher vielen bekannt ist.

Zusammen aber alleine. Ich weiß ja, dass dieses Gefühl genauso schnell, wie es gekommen ist, wieder verschwinden kann. Doch gerade ist es so verdammt niederschmetternd.

Im Laufe des Romans lässt Lois trotz dieser Angst und trotz der Meinung ihrer Mutter, dass Menschen in diesem Leben lediglich zum gegenseitigen Entertainment da seien, eine neue Nähe zu. Und zwar zu dieser Person, ihrer Mutter, die ihr genau das in ihrer Kindheit nicht geben konnte.

Taubenleben beschreibt einen Weg des Suchens und Findens in wenigen Tagen. Besonders zum Ende nimmt der Roman nochmal an Fahrt auf, sodass sich besonders die letzten dreißig Seiten und das berührende Ende zu lesen lohnen.

Paulina Czienskowski: Taubenleben, Aubau Verlag / Blumenbar, 2020.


Karolin Kolbe
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