Eine Jugend in Metaphern

Nachhinein ist Lisa Kränzlers zweiter Roman, mit dem sie für den Preis der Leipziger Buchmesse 2013 nominiert war. Wie schon in ihrem Debüt geht es um das Erwachsenwerden, um Freundschaft und um die Identitätsfindung junger Menschen. Vor allem aber um das, was dabei verloren geht. 

kränzler
© Verbrecher Verlag

Nicht zum ersten Mal erzählt Lisa Kränzler eine Geschichte von heranwachsenden Mädchen und ihren Erfahrungen mit Freundschaften. Auch ihr Debütroman Export A war schon diesem Thema gewidmet. In Kränzlers neuem Roman Nachhinein berichtet nun eine Ich-Erzählerin Mitte Zwanzig, die „vielleicht Lotta, vielleicht Luisa, vielleicht Luzia“ heißt, rückblickend von ihrer Freundschaft zu der in völlig anderen Verhältnissen aufwachsenden JasmineCelineJustine.

Dass die beiden Mädchen sich anfreunden ist Zufall – sie wohnen in der gleichen Straße, deren Name genauso wenig festgelegt ist wie die Vornamen, und gehen in den gleichen Kindergarten. Hier enden die Gemeinsamkeiten aber auch schon. JasminCelineJustine wächst in einem lieblosen Arbeiterhaushalt auf, regiert vom gewalttätigen Vater, der seine Tochter mehrfach missbraucht. Auf der anderen Straßenseite lebt LottaLuisaLuzia wohlbehütet in einer adligen Akademikerfamilie, die über Probleme schweigt, solange es nur möglich ist – sodass ihr Leben zumindest von außen einfach und harmonisch scheint.

Die Freundschaft, in der Kindheit ausgelebt bis zur Blutsschwesternschaft, wird in der Pubertät für LottaLuisaLuzia schließlich zur Belastung. Sie wendet sich ab von ihrer hilflosen Kinderfreundin, zu groß sind die Unterschiede, zu verschieden die Themen, mit denen sich die beiden beschäftigen: JasminCelineJustine identifiziert alle sie umgebenden Menschen mit Figuren ihres Prügel-Videospiels Street Fighter 2, dem Hauptinhalt ihrer Freizeitgestaltung – LottaLuisaLuzia übt hingegen exzessiv Klavier und findet in Glenn Gould ihr Idol.

Alles ist umschrieben, alles ist bebildert

„Mir waren Worte immer ernst“, sagt die Ich-Erzählerin zu Beginn des Romans, und betrachtet man ihre Sprache, wird deutlich, was sie damit meint. Mal erfüllt von Nostalgie und Bedauern, mal mit humorvollem Blick auf die Vergangenheit formt sie Sätze wie Ausstellungsstücke, bilderreich und überquellend vor Sprachbewusstsein: „Vorsichtig drücke ich jahrealte Wortreste und Satzfetzen gegen den Gaumen. Ein bitterer, metallischer Geschmack breitet sich aus, und ich spüre meine Zunge unter dem giftigen Belag einstmals ausgesprochener Torheiten erlahmen.“

Eine Metapher reiht sich an die andere: Der Wohnzimmersessel als „Adlerhorst des Wissens“, der Stromkasten vor der Tür als „kinnhoher Glimmerbrocken mit Tür, von dessen Innenleben ich nichts weiß“ – alles erhält eine Umschreibung, kaum etwas, das einfach nur sein darf, was es ist. Diese Ansammlung von Bildern weckt jedoch zunehmend den Wunsch nach einer Atempause, denn die teilweise gelungenen Metaphern verlieren durch die Bilderflut des Textes ihre Wirkung.

Aus Wir wird Ich und Sie

Die Erzählerperspektive wechselt vielfach und auf anfangs verwirrende Weise. Zwischen die Berichte LottaLuisaLuzias drängen sich immer wieder Erlebnisse und Tagebucheinträge JasminCelineJustines, manche Episoden werden doppelt, aus beiden Perspektiven erzählt. Dabei hält sich die Ich-Erzählerin mit Wertungen aus ihrem reiferen, urteilsfähigen Alter zurück und ermöglicht den Mädchen, einander ohne Vorbehalte zu begegnen und ihre Erfahrungen zu sammeln, die schönen, aber auch die unbequemen.

So entdecken sie die Welt, die sie umgibt. Eine Welt, die jedoch mehr und mehr zu zwei Welten wird: Wo zu Beginn „wir“-Episoden stehen, gibt es am Ende nur noch „ich“- und „sie“-Kapitel. LottaLuisaLuzia und JasminCelineJustine werden Stellvertreter ihrer Milieus. Dass dafür Vornamen genügen, wird spätestens am Beispiel von LottaLuisaLuzias Eltern deutlich, die alle auf -ine endenden Namen „geschmacklos“ finden.

Dennoch umgeht Lisa Kränzler die Gefahr einer völlig stereotypen und moralisierenden Darstellung der Welten und vermittelt einen anderen Blick auf das Geschehen: Der Text lädt zu einer (Wieder-) Entdeckungsreise in kindliche Gedanken- und Gefühlswelten und spielt dabei mit den Erinnerungen des Lesers. Dass dieser sich immer wieder ertappt fühlt – nicht, weil der Text verurteilt, sondern weil er eben darauf verzichtet – wird zu einem Qualitätsmerkmal des Romans. Durch die kindliche Perspektive wird die Bewegung des Prozesses deutlich: Hier prallen keine Welten aufeinander – sie driften auseinander.

Die Erkenntnis der Unumkehrbarkeit

Dementsprechend wird JasminCelineJustine in den letzten Kapiteln des Buches nicht mehr erwähnt. Die völlige Abwendung von ihr vergibt sich die Ich-Erzählerin zuvor selbst: „Was immer ich getan habe, heute Nacht hat Gott das Tipp-Ex ausgepackt, es zugedeckt, ausgelöscht, verschwinden lassen.“

Die zentralen Erkenntnisse der Hauptfigur beziehen sich demnach auf Vergänglichkeit und die Unumkehrbarkeit des Lebens. „Das deutliche Gefühl, dass all mein Fühlen, Sehen und Hören mit Vergangenem behaftet ist, deprimiert mich zutiefst“, bekennt LottaLuisaLuzia, und sie fügt hinzu: „Die Erkenntnis, dass sich nichts von dem, was einmal ausgesprochen wurde, je zurücknehmen lässt, hängt wie ein Mühlstein an meinem Sprachmuskel“. Indem sie den Leser im Nachhinein an ihrer Geschichte teilhaben lässt, beweist sie selbst, dass dieser Mühlstein sich gelöst hat.

Lisa Kränzler: Nachhinein. Verbrecher Verlag. 272 S. 22,00 €

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