Eintrag für den dreißigsten Tag des elften Monats in dem Jahr, in dem Piranesi die süd-westlichen Hallen meiner Gedanken durchquerte 

Eine Geschichte über die Einsamkeit, die Schönheit des Simplen und was zu große Begierde nach Wissen und Macht aus Menschen machen kann. Susanna Clarke testet die Grenzen der Fantasie – oder der Realität? 

© Eva Bensberg

Es ist Nacht, der Mond scheint und ein unbestimmter Erzähler ist in die „Ninth vestibule“ gekommen, um dem Geschehen der Flut zuzugucken. In dieser Halle gibt es drei große Treppen und aberhunderte Marmor-Statuten, die an den Wänden aufgereiht sind. Er stellt sich hinter eine riesige Marmor-Frau, die einen Bienenstock trägt, und wartet auf das Wasser. Dieses kommt nach und nach und immer heftiger, bis es ihn fast mit sich zieht, es aber nicht schafft. Denn: 

„The Beauty of the House is immeasurable; its Kindness infinite.” 

Klingt verwirrend? Soll es auch! Falls man nach den ersten Seiten das Buch erschöpft zur Seite legen und nie wieder in die Hand nehmen will, so ist das verständlich. Aber auch schade. Denn einmal angekommen in dieser merkwürdigen Welt, in der so vieles keinen Sinn macht, möchte man gar nicht mehr weg. 

Allein in einem unendlichen Haus mit unzähligen Hallen, Säulen, Statuen. Allein, bis auf die Gedanken, ein paar Fische und Vögel, dreizehn alte Skelette, den Ozean, der sein Wasser in regelmäßigen Abständen durch die Räume schickt und einen bärtigen, anzugtragenden Mann, der manchmal vorbeikommt. Piranesi ist seines Wissens neben „the Other“ die einzige lebendige Person in der ganzen großen Welt.

Mit diesem „Other“ trifft sich Piranesi zwei Mal die Woche, um den Fortschritt der Suche nach dem „Great and Secret Knowledge“ zu besprechen, ein Projekt für das Piranesi durch die Hallen reist und Daten sammelt. Er ist es auch, der Piranesi seinen Namen gegeben hat. Eine Anspielung auf den Architekten und Archäologen Giovanni Battista Piranesi, der die alten Bauten Roms erforscht und aufgezeichnet hat. Wie dieser verbringt Piranesi seine Tage damit, die Hallen und alles, was er darin erlebt, für einen ungewissen zukünftigen Leser detailliert zu verschriftlichen. 

Woher weiß er, was eine Keksdose ist? 

Jeder dieser Einträge, aus denen das Buch aufgebaut ist, birgt allerdings nicht nur Erkenntnisse, sondern wirft immer wieder neue Fragen auf. Die größte davon: Wer ist Piranesi und wo kommt er her? Aber auch grundsätzliche: Woher weiß er, was eine Keksdose ist, in der er die Knochen eines anderen Menschen findet? Wie kann es sein, dass eine professionell gefertigte Metallschachtel in einer Welt auftaucht, in der sich Piranesi von Fisch und Algen ernährt, weil es sonst nichts gibt? Woher weiß er, was ein Käse-Schinken-Sandwich ist, wenn er noch nie eine Kuh oder ein Schwein gesehen hat und warum hinterfragt er nicht, woher die Zutaten kommen? Besonders, wenn er sich selbst als Forscher bezeichnet und alles andere hinterfragt? Warum wundert er sich nicht, wo „the Other“ ist, wenn sie sich nicht sehen? Und woher dieser all die großartigen Geschenke für ihn hat? Zusammen mit Piranesi wacht der Leser langsam aus dem Traum auf und sucht Antworten auf die sich immer weiter häufenden Fragen. 

Das hier ist etwas Besonderes 

Auffällig ist Susanna Clarkes Schreibstil schon von der ersten Überschrift an. Der Roman stellt die Tagebucheinträge Piranesis dar – jeder davon ist mit einem Titel versehrt, welches das Datum darstellen soll. Aber Piranesi zählt nicht in Jahreszahlen, sondern hat sich ein eigenes System ausgedacht. So gibt es zum Beispiel “the Year I discovered the Coral Halls”, „the Year I counted and named the Dead” oder “the Year the Albatross came to the South-Western Halls”, in dem sich das gesamte Buch abspielt. Das findet Piranesi sinnvoller als irgendwelche Zahlen ohne ersichtliche Bedeutung.

Auffällig ist außerdem, dass durch den gesamten Roman hindurch einzelne Wörter unabhängig von grammatikalischen Regeln großgeschrieben werden. “When the Moon rose in the Third Northern Hall I went to the Ninth Vestibule to witness the joining of three Tides.” Schon im ersten Satz stockt man. Aber auf eine gute Weise. Man merkt sofort: das hier ist etwas Besonderes. 

Die ansonsten großartige deutsche Übersetzung von Astrid Finke zeigt, dass sich diese Auffälligkeit schwer ins Deutsche übertragen lässt, da hier generell öfter als im Englischen großgeschrieben wird. „Die Schönheit Des Hauses ist unermesslich, seine Güte grenzenlos.“ Die Lösung ist vielleicht die eleganteste, jedoch geht trotzdem der Charme und noch etwas ganz anderes verloren. Diese bewusste Großschreibung hat, wie alle Entscheidungen einer Autorin, einen Grund.

Wahrscheinlich ist es auch aufgrund seiner Einsamkeit, dass Piranesi anfängt, alles um ihn herum zu personifizieren. So spricht er auch in Bezug auf sich selbst von „Myself“, als ob das schreibende und aktive „I“ und der Körper zwei verschiedene Menschen wären („I congratulate Myself on having a plentiful supply of dry seaweed“). Hier merkt man, wie viele Gedanken sich Clarke bei dem Erstellen dieses zutiefst außergewöhnlichen Romans gemacht hat und wieviel Selbstreflektion in die Geschichte geflossen ist. Es ist schade, dass diese kleinen, aber bedeutenden Überlegungen bei der Übersetzung verloren gegangen sind. 

Malerische Isolation 

Als Susanna Clarke die Geschichte des einsamen Piranesis schrieb, konnte sie nicht ahnen, dass diese im Jahr 2020 zu einem Zeitpunkt erscheinen würde, an dem sich die gesamte Menschheit in plötzlicher Isolation wiederfand. Sie hingegen hatte diese Erfahrung schon davor gemacht. Nach ihrem großen Erfolg im Jahr 2004 mit dem Fantasy Roman Jonathan Strange & Mr. Norrell erkrankte Clarke am chronischen Erschöpfungssyndrom und konnte lange das Haus nicht wie gewöhnlich verlassen, alles ermüdete sie. Viele Leser hatten sich nach der Ankündigung einer Neuerscheinung von Clarke auf eine Fortsetzung der fantastischen Geschichte der beiden Magier gefreut. Doch die Arbeit für ein so großes Werk war zu anstrengend für Clarke. 

Die Idee von Piranesi war ihr schon viele Jahre zuvor gekommen, doch nahm nun wieder Form an. Die einzige Recherche, die sie betrieb, war ein Buch über Wolken zu lesen, wie sie in einem Interview mit dem Guardian erzählt. Die Energielosigkeit, die Grenzen, die Clarkes Körper ihr setzte, und die daraus resultierende Einsamkeit hatten eine Depression zur Folge. Ganz im Gegensatz dazu wirkt Piranesi zufrieden mit sich und seiner Situation. Seine Isolation fühlt sich malerisch an, so malerisch, dass es fast schon neidisch macht. Der Leser taucht ein in eine Welt ohne Ablenkung, mit einem Fokus auf das Grundsätzliche und mit unendlich viel Zeit. Der Schreibprozess von Piranesi gab Clarke einen neuen Blick auf ihre eigene Situation: “It was the growing sense that just because you are physically confined you needn’t be living an impoverished life.” (Guardian) 

Unter normalen Umständen würde ich ein Buch zur Seite legen, nachdem ich die erste Seite zum 10ten Mal lesen musste. Da Piranesi aber in meinem Lesekreis das Buch des Monats war, konnte es nicht einfach auf den Stapel von halb gelesenen und meiner wertvollen Zeit unwürdig empfundenen Büchern gelegt werden. Und dafür bin ich sehr dankbar. Clarke schafft mit ihren Worten ein Kopfkino, zu dem man zurückkehren will, um mehr zu entdecken, sich immer tiefer zu verlieren und dabei besser kennenzulernen. 

Susanna Clarke: Piranesi, 272 Seiten, Taschenbuch, Bloomsbury 2021, 9,49 EUR.

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