»Es gibt Bücher, die müssen nicht gelesen, sondern geschrieben werden«

Armut kann psychisch krank machen. Der Autor Olivier David hat das am eigenen Leib erfahren – und ein Buch darüber geschrieben. 2022 erschien sein Debüt »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch über den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen schreibt. Ein Gespräch über Klasse, den Literaturbetrieb und das Kulturprekariat.

Foto: Jan Lops

Spätestens seit Annie Ernaux den Literaturnobelpreis gewonnen hat, ist die sogenannte Klassenliteratur immer populärer geworden. Olivier David, dein Buch kann auch zu dem Genre gezählt werden. Wie kam es dazu, dass du dich literarisch mit dem Thema beschäftigt hast?

Als ich 2019 begonnen habe, das Buch zu schreiben, gab es in Deutschland noch wenig neuere Klassenliteratur. Ein paar Jahre zuvor wurde mir durch eine Buchbesprechung im Radio über »Im Herzen der Gewalt« von Édouard Louis zum ersten Mal bewusst, dass man in der Literatur Gewalt, soziale Probleme und Armut benennen kann.

Dann habe ich angefangen Kurzgeschichten zu schreiben. Später habe ich erkannt, dass die psychischen Störungen, die ich schon lange hatte, sozial bedingt sind. Mit dem Schreiben habe ich mir die Erlaubnis gegeben, mich mit diesen Bedingungen auseinanderzusetzen. Es gibt Bücher, die müssen nicht gelesen, sondern geschrieben werden.

Mein ganzes Leben hatte ich das Gefühl, dass ich fehlerhaft und unangemessen schwach bin. Das Gefühl ist immer noch da, aber seitdem mein Buch fertig ist, sage ich mir: Du kannst nicht in einem Interview erzählen, was für einen großen Einfluss die Herkunftsbedingungen beim Entstehen von Depressionen haben, und dann zu dir selbst sagen: Bruder, du bist einfach zu faul.

Verstehst du das Schreiben als Therapie?

Soziale Bedingungen haben Einfluss auf den persönlichen Werdegang. Das hat nicht nur eine therapeutische Komponente, sondern auch eine sozialpolitische. Ich benutze mich als Folie. So individuell ein Lebenslauf sich auch anfühlen mag, in den Lebensläufen von vielen Menschen sind dieselben sozialen Determinanten vorhanden, denn das System lässt die Menschen an denselben Stellen scheitern. Menschen werden arm, weil sie psychisch oder körperlich erkranken und andersherum. Wenn du psychisch krank bist, ist es wahrscheinlicher körperlich krank zu sein, und wenn du körperlich krank bist, ist es wahrscheinlicher, arm zu sein. So wird man in diesem Bermudadreieck des Grauens hin- und hergeschickt. Das sind keine guten Bedingungen, um über sein Leben zu reflektieren oder schreiben.

Mittlerweile studierst du in Hildesheim, einer der zwei Städte in Deutschland, in denen es Schreibschulen gibt. Diese Literaturinstitute werden häufig dafür kritisiert, nicht zugänglich genug für Menschen zu sein, die nicht aus Akademikerhaushalten kommen. Wie nimmst du das wahr?

In meinem Bewerbungsgespräch wurde ich gefragt, was ich von Lyrik halte. Ich habe gesagt, wenn ich an Lyrik denke, dann fühlt es sich an, als würde ich in runtergeranzter Jogginghose ins Museum gehen. Lyrik hat für mich etwas sehr Elitäres, jedes Wort wird auf die Wagschale gelegt. Es fühlt sich an, als sollte mir das alles etwas bedeuten, aber das tut es nicht, weil ich keinen Zugang dazu bekomme. Die Prüferinnen haben sich beömmelt, weil sie es witzig fanden, aber mich trotzdem genommen. Das wäre früher wahrscheinlich anders gewesen. Ich glaube, dass sich in den letzten Jahren zwar etwas verändert hat, aber kein ganz neuer Wind weht.

Ich finde es aber nicht besonders interessant, von einem Ausschluss durch das Literaturinstitut zu sprechen, weil der erste Ausschluss schon dadurch passiert, dass die Kinder aus meiner Straße sich niemals durch das Literaturinstitut angesprochen fühlen würden.

Autor*innen wie Didier Eribon und Édouard Louis sind bekannt für das literarische Thematisieren ihres Bildungsaufstiegs. Manche werfen ihnen vor, mit der Geschichte ihres individuellen Erfolgs die Behauptung zu vermitteln, jede*r könne das schaffen. Dein Buch heißt »Keine Aufstiegsgeschichte«. Hast du versucht, dich von dieser Behauptung abzugrenzen?

Das, was unter Klassenliteratur verhandelt wird, sind oft Aufsteiger*innengeschichten. Sie enden damit, dass die Protagonist*in das Abitur geschafft hat, in die größere Stadt zieht und als erste Person in der Familie an die Uni geht. 

Ich tue gut daran, davon auszugehen, dass ich ökonomisch nie besonders gut dastehen werde. Wenn ich mit 16 eine Ausbildung gemacht hätte, würde ich vermutlich mehr verdienen als ich das jetzt tue. Zwischen meinem 20. und 30. Lebensjahr habe ich ein Dutzend beschissener prekärer Jobs gemacht, die ich alle nicht ausgehalten habe.

Dass ich Autor geworden bin, hat also nichts mit Mut zu tun, sondern ist meine Art, nicht zugrunde zu gehen. Auch wenn das bedeutet, dass ich weiterhin prekär lebe. Leute in der Unterklasse sind Bedingungen unterworfen, die das Schreiben systematisch verunmöglichen. Schreiben muss man sich leisten können.

Mit dem Titel will ich darauf hinaus, dass es nicht nur für mich keine Aufstiegsgeschichte gibt, sondern dass man überhaupt literarisch über die Menschen sprechen sollte, die dauerhaft in Armut leben und es nicht rausschaffen. Man muss sich mit den sozialen Bedingungen ihrer Armut auseinanderzusetzen und fragen, warum sie nicht von der Stelle kommen. Das liegt ja nicht an ihnen oder an ihrem Mut, sondern am System.

Du beschreibst in deinem Buch viele Situationen, in denen du dich schämst. Allerdings schreibst du in deiner neuen Kolumne auch, dass Scham kein allgemeines Empfinden der Arbeiter*innenklasse ist, sondern oft erst auftritt, wenn man versucht, sich an ein anderes Milieu anzupassen. Ist es sinnvoll, im Kontext der sozialen Herkunft über Scham zu sprechen?

Ich habe früh Scham empfunden, weil ich auf eine Waldorfschule gegangen bin, in der viele Kinder in Häusern oder sogar in Villen gelebt haben, da war ich mit meinen Erfahrungen in der Minderheit.

Das Narrativ von Scham im Zusammenhang mit Klasse ist so populär, weil man glaubt verstanden zu haben, dass Armut automatisch bedeutet, sozial abgewertet zu werden. Aber in einer Gesellschaft, in der Klassenverhältnisse segregierter werden und die Menschen an den Rand getrieben werden, so dass sie immer mehr unter sich sind, begegnet man immer weniger Leuten aus anderen Milieus. Wenn man mehr unter seines Gleichen bleibt, muss es also auch weniger Beschämung geben.

Ich finde es daher wichtig, über eine institutionelle Art der Beschämung zu sprechen. Wenn du jeden Tag vom Jobcenter drangsaliert wirst, ist das auch eine Form von Scham. Eine Person in einer privilegierten Lage schaut auf dich herunter und sagt dir, dass du wieder etwas falsch gemacht hast.

Bei den Aufsteiger*innen kann die Scham vielleicht dafür sorgen, dass sie die Kraft bekommen, der Armut zu entfliehen. Aber vorrangig bedeutet Scham soziale Kontrolle – und daran ist nichts gut.

Inwiefern hilft es bei sozialen Kämpfen, sich mit mentaler Gesundheit auseinanderzusetzen?

Mittlerweile wird über psychische Erkrankungen wie Depressionen gesprochen, das ist etwas Gutes. Aber die sozialen Bedingungen dieser Erkrankung werden meist nicht erwähnt. 

Das voneinander zu trennen passt total zum Zeitgeist, in dem alles wunderbar entstigmatisiert wird, aber nicht geguckt wird, welche Kontexte psychische Erkrankungen oder Leid fördern. Man koppelt die psychische Gesundheit ab von der kapitalistischen Gegenwart, die sich auf eine Unterklasse stützt, um Übergewinne wegzutransportieren. Es sind viele Ausgebeutete und eine gewisse Menge von Leuten ohne Arbeit nötig, um dieses System am Laufen zu halten.

Wenn man sich die Personengruppen anguckt, die am meisten unter psychischen Erkrankungen leiden, dann sind das Menschen, die in Armut leben, dazu gehören Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund. Es sind mehr Frauen als Männer, weil Frauen ein prekäreres Leben führen, das mehr Stress und Armut unterworfen ist. Psychisch krank sind selten Leute, die besonders ruhig auf die Welt kommen. Es müssen Verhältnisse geschaffen werden, die solche Umstände gar nicht erst produzieren, anstatt dass man sagt: ist halt doof, aber es gibt geile Therapieapps, die das regeln. 

Diese Apps waren ursprünglich dazu gedacht, die Zeit während der Suche nach einem Therapieplatz zu überbrücken, aber jetzt werden sie als niedrigschwelligere und vor allem kostengünstigere Alternative von Krankenkassen angeboten. Sie springen dabei in die Bresche für etwas, das sie gar nicht leisten können: die psychische Gesundheit wirklich langfristig zu verbessern. Der Markt schafft hier Angebote, die angeblich Teil der Lösung sind, aber je länger man sie sich anschaut, werden sie Teil des Problems – denn da, wo es mehr Therapieapps gibt, verhallt der Ruf nach mehr Therapieplätzen.

Was geht bisher unter, wenn über psychische Gesundheit gesprochen wird?

Es bringt dann etwas darüber zu sprechen, wenn man Probleme benennen und adressieren kann. Die Politik formuliert Gesetze, die dafür verantwortlich sind, dass meine Familie über Generationen in Armut lebt. Um frei nach Édouard Louis zu sprechen: Die Politik verurteilt mich qua Geburtslotterie dazu psychisch krank zu werden.

Das Interview führte Emma Rotermund.

Olivier Davids Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, 240 Seiten, erschien 2022 bei Eden Books. Seine Kolumne »David gegen Goliath« kann man bei Das Lamm lesen oder als Newsletter abonnieren. Seine Kolumne »Klassentreffen« erscheint im Neuen Deutschland.

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