Kein Opfer mehr, aber auch keine Heilige

Was wäre, wenn Frauen patriarchale Gewalt nicht mehr hinnehmen würden, sondern zurückschlagen? In Eva Reisingers Debütroman „Männer töten“ setzen sich die Bewohnerinnen eines fiktiven Dorfs zur Wehr.

Foto: Emma Rotermund

Die Nachricht über eine getötete Frau schockt kaum jemanden. Jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner oder Expartner getötet, jeden Tag versucht es einer – die Zahlen wurden mittlerweile so häufig genannt, dass man sie mitbeten kann. Auch in der Fiktion sind Frauen beliebte Opfer brutaler Gewalt: In Kriminalromanen und -filmen sterben sie überdurchschnittlich oft. Der Tod einer schönen jungen Frau, fand schon Edgar Allan Poe, sei ohne Zweifel das poetischste Thema der Welt.

Eva Reisinger sieht das anders – und kehrt in ihrem 2023 erschienenen Debütroman Männer töten die Verhältnisse um. Sie erfindet ein Dorf, in dem die alltägliche Gewalt gegen Frauen nicht stattfindet: In Engelhartskirchen gibt es keine sexuellen Übergriffe, keine häusliche Gewalt und keine Femizide. Für die Protagonistin Anna Maria, die frisch aus Berlin in das Heimatdorf ihres neuen Freundes Hannes gezogen ist, wirkt das erstmal paradiesisch. Die Bewohnerinnen führen ausgesprochen unbeschwerte Leben. Die Kinderbetreuung ist kollektiv organisiert, wodurch ihnen neben dem Kühemelken viel Zeit für ausgelassene Feiern und lange Spaziergänge und Gespräche bleibt.

Doch bald drängen sich Fragen auf: Wieso gibt es so wenige Männer in dem Dorf? Und warum sind diejenigen, die erwähnt werden, überdurchschnittlich oft verschwunden oder tot?

Anna Marias Beziehung zu Hannes wirkt nicht besonders leidenschaftlich, im Gegenteil: Abgeklärt und fast ein wenig gleichgültig leben sie nebeneinander her, als wären sie schon Jahrzehnte ein Paar. In unerotischen Beschreibungen wie „Hannes ist so warm wie seine Kühe“ und – wie sich später herausstellt – seiner bedingungslosen Unterstützung bei all ihren Vorhaben wird jedoch deutlich, was diese Beziehung ihr gibt: eine Sicherheit, die ihr in der Vergangenheit gefehlt hat.

Keine Parallelwelt

Mit der Zeit erfährt Anna Maria von der Gewalt, die Frauen in ihrem Umfeld erlebt haben – und wie sie damit umgegangen sind. Wie von Beginn an durchscheint, bringen die Frauen in diesem Dorf regelmäßig Männer um. Nicht willkürlich, keine sogenannten „Beziehungstaten“, wie Femizide euphemistisch in einigen Medien genannt werden. Die Männer, die sterben, haben immer zuvor selbst misogyne Gewalt ausgeübt. Der Gewaltbegriff ist dabei weit gefasst: Sexistische Alltagsunterdrückung und psychische Gewalt werden ebenso ernstgenommen wie physische und sexualisierte Gewalt.

Das Matriarchat, das Reisinger entwirft, findet in keiner Parallelwelt statt. Die Geschlechterrollen sind nicht komplett umgekehrt, wie es beispielsweise im Netflix-Film Kein Mann für leichte Stunden (2017) der Fall ist – ein sexistischer Mann wacht auf einmal in einer Welt auf, in der die Frauen das Sagen haben und Männer unterdrückt werden. In Reisingers Romanwelt beschränkt sich das Matriarchat auf ein Dorf, und selbst das ist nicht frei von patriarchalen Strukturen:

„Er rechnete nicht mit Rache. Nicht einmal mit Widerstand. Warum sollte er? Das gesamte System war auf seiner Seite. Er musste sich keine Sorgen machen. Am Ende gewann immer er.“

Rape and Revenge in der Popkultur

Weibliche Racheerzählungen erleben eine Renaissance in der Popkultur: in Filmen wie Promising Young Woman (2020) oder Songs wie Vigilante Shit von Taylor Swift. Auch in der Literatur ist das altbekannte Motiv „Rape-and-Revenge“ wieder angekommen: So erzählt die Autorin Mareike Fallwickl in ihrem 2022 erschienenen Roman Die Wut, die bleibt von einem feministischen Schlägertrupp, bestehend aus vier Teenagerinnen, die sich an Männern rächen, die ihnen und anderen Frauen Gewalt angetan haben.

„Du tust einfach, was immer du tun musst, um dich nicht wie ein Opfer des Lebens zu fühlen“, sagt eine Figur in der Serie White Lotus, die sich weigert, sich in eine Opferrolle drängen zu lassen. Wohl nicht zufällig bekommt die Titelmelodie der Serie einen Gastauftritt in Reisingers Roman, kurz bevor Anna Maria sich zur Rache entschließt. Ihre Gedanken dabei: „Sie will kein Opfer mehr sein, aber eine Heilige auch nicht“.

Genug erklärt

Was auffällt: Bevor die Frauen die Männer umbringen, findet keine Aussprache statt. Sie liefern ihnen keine Erklärung ab, und die Männer bekommen keine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen oder Reue zu zeigen. Das kann als Absage verstanden werden an den ständigen Appell, Frauen müssten Männer schonend und liebevoll an den Feminismus heranführen – und den Glauben, Aufklärung allein würde genügen, um die Verhältnisse zu ändern. Als würden Männer Frauen aus Unwissenheit unterdrücken und nicht, weil es ihnen nützt. Die Frauen in Engelhartskirchen haben genug erklärt und unverdiente Chancen verteilt. Sie wehren sich.

Rachefiktionen haben etwas Kathartisches: Statt die Wut auf das Patriarchat herunterzuschlucken und mit ihr zu leben, wird ihr ein Ventil gegeben. Eva Reisinger zeigt in ihrem Buch die stumpfe Realität einer von Misogynie durchtränkten Gesellschaft. Wer eine Gebrauchsanweisung zur Abschaffung des Patriarchats erwartet, wird nicht fündig. Aber durch das Überraschungsmoment der umgekehrten Verhältnisse wird die real existierende Unterdrückung sichtbar gemacht – und zwingt auch diejenigen, sich mit patriarchaler Gewalt zu beschäftigen, die sich partout weigern.

Eva Reisinger: Männer töten. Erschienen 2023 bei Leykam, 285 Seiten.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen