Die Idee des autoritären Charakters entstand bereits in den 1930er Jahren im Umfeld der Frankfurter Schule. Nun ist 2020 ein Band zur Aktualität dieser Idee im Verbrecher Verlag erschienen: »konformistische Rebellen – zur Aktualität des autoritären Charakters«. Marie Kraja hat mit Herausgeberin Katrin Henkelmann über Versuche der Ohnmachtsbewältigung, durchlektorierte Nächte und das potentiell faschistische Individuum gesprochen.
Interview von Marie Kraja
Der Band war ein großer Erfolg: Von allen Neuerscheinungen des Verbrecher Verlags 2020 war es am schnellsten (innerhalb eines Monats!) ausverkauft. Wie erklärst du dir das?
Zum einen besteht glaube ich ein relativ großes Interesse an dem Phänomen Autoritarismus oder Faschismus. Gleichzeitig scheinen die existierenden Erklärungsversuche vielen nicht auszureichen. Ein weiterer Faktor ist, dass der Zusammenhang von Gesellschaft und Individuum, von Psychologie auf der einen und Ökonomie, Politik und Gesellschaft auf der anderen Seite auch an Universitäten unzureichend thematisiert wird. Ich glaube auch, dass die Form des Sammelbandes für viele einen guten Einstieg in eine für sie neue Theorie bietet, weil die Texte nicht so lang sind, und man sich aussuchen kann, bei welchem Thema man anfängt. Außerdem macht der Verbrecher Verlag sehr gute Werbung, das muss man auch mal sagen (lacht).
Das theoretische Konzept des autoritären Charakters ist schon 90 Jahre alt. Worum geht es dabei und warum ist es immer noch aktuell?
Der autoritäre Charakter beschreibt eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur, konkret die Persönlichkeitsstruktur des potentiell faschistischen Individuums – ein Individuum, das besonders anfällig für antidemokratische und faschistische Propaganda ist. Adorno benutzt stellenweise auch den Begriff des »autoritären Syndroms«. Damit meint er eine Bündelung von Persönlichkeitseigenschaften und Einstellungen, wie beispielsweise Ethnozentrismus und Antisemitismus, wobei es weniger um die konkreten Inhalte bestimmter Ideologien geht, sondern eher um eine generelle Anfälligkeit für stereotypes und projektives Denken.
Gleichzeitig ist der autoritäre Charakter kein individuelles Phänomen, er wird immer als gesellschaftlich produziert verstanden. Man könnte sagen er ist ein irrationaler Bewältigungsversuch einer Ohnmacht, und diese Ohnmacht ist eben gesellschaftlich produziert. Auch wenn sich in den letzten 80 bis 90 Jahren relativ viel geändert hat – gerade in Bezug auf Gewalt in der Kindererziehung oder die Relevanz der Familie insgesamt – ist eins doch gleichgeblieben, und das ist die kapitalistische Vergesellschaftung der Individuen. In Bezug auf die Frage nach der Aktualität würde ich also sagen, dass dieser zentrale Mechanismus heute noch gegeben ist, auch wenn er vielleicht anders vermittelt wird.
Was bedeutet das genau »Kapitalistische Vergesellschaftung«?
Jeder Einzelne ist im Kapitalismus erstmal frei von persönlicher Abhängigkeit und frei von direkter Herrschaft, im Gegensatz zur Leibeigenschaft im Feudalismus beispielsweise. Aber gleichzeitig ist das auch eine Freiheit ohne Existenzsicherung. Man ist immer wieder gezwungen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, sich in den kapitalistischen Konkurrenzzusammenhang zu stellen und sich gegen andere Individuen zu behaupten. Man ist also auf der einen Seite für sich selbst und sein Glück verantwortlich, steht aber gleichzeitig den Marktmechanismen, samt Arbeitslosigkeit und Krisen, relativ ohnmächtig gegenüber – hat also faktisch gar keine Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen. Aus diesem Mechanismus resultieren eine enorme Kränkung des Einzelnen und ein starkes Ohnmachtsgefühl. Beides begünstigt die Flucht ins Kollektiv, in die Autorität, denn beide versprechen Sicherheit, Macht und eine unverlierbare Zugehörigkeit.
Und was ist ein konformistischer Rebell?
Ein konformistischer Rebell ist jemand, der unzufrieden ist mit seiner Situation in der Gesellschaft und deswegen rebelliert. Seine Rebellion richtet sich dabei gegen diejenigen, die er dafür verantwortlich macht: also meistens politische und gesellschaftliche Eliten, die »Fremden« oder in mehr oder weniger verklausulierter Form die Juden. Gleichzeitig ist er aber durchaus konform mit den Autoritäten und Normen innerhalb der eigenen Gruppe und den gesellschaftlichen Verhältnissen insgesamt, wie zum Beispiel ökonomischer und sozialer Ungleichheit. Es geht ihm nicht darum, die Ursachen von gesellschaftlicher Ungleichheit zu bekämpfen, sondern lediglich darum, die in seinen Augen falschen Autoritäten gegen die vermeintlich richtigen auszutauschen.
In eurem Vorwort schreibt ihr: »[…] zum Verständnis der Ursachen [der Attraktivität autoritärer Denk- und Verhaltensweisen] tragen politikwissenschaftliche Ansätze wenig bei.« Was kann kritische Theorie, das diese Ansätze nicht können?
Politikwissenschaftliche Ansätze können erklären, warum bestimmte autoritäre Bewegungen zu einem bestimmten Zeitpunkt Erfolg haben, also welche Faktoren oder Strukturen das begünstigen – worin aber die Attraktivität des Autoritarismus generell besteht oder woher diese Attraktivität kommt, können sie nicht erklären. Warum wählt beispielsweise jemand, der arbeitslos ist, die AfD, obwohl die Partei ein neoliberales Wirtschaftsprogramm vertritt? Das lässt sich mit politikwissenschaftlichen Theorien erst einmal nicht erklären.
Die Kritische Theorie hingegen verbindet Gesellschaftstheorie mit Psychoanalyse und kann somit den Zusammenhang zwischen objektiven, ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen auf der einen Seite und einer individuellen Persönlichkeitsstruktur auf der anderen Seite herstellen. Sie begreift Autoritarismus als irrationalen Bewältigungsversuch von wiederum irrationalen Verhältnissen und kann so ebenjene Aspekte erklären, an deren Erklärung andere Ansätze scheitern. Generell würde ich sagen, dass die Kritische Theorie den Anspruch einer Gesamttheorie der Gesellschaft vertritt und damit überhaupt erst eine adäquate Kritik dieser Gesellschaft ermöglicht.
Als Gruppe wart ihr schon vorher im Rahmen des Rosa Salons organisiert. Wie kam es dazu, dass ihr den Band herausgegeben habt?
Genau, im Rosa Salon [eine politische Hochschulgruppe in Trier] haben wir seit 2016 gesellschaftstheoretische und politische Bildungsveranstaltungen organisiert. 2018 haben wir eine Tagung zum autoritären Charakter veranstaltet, an der einige der späteren 20 Autorinnen und Autoren teilgenommen haben. Im Anschluss an die Tagung kam dann die Idee auf, die Beiträge zu verschriftlichen, um die Inhalte mehr Menschen näher zu bringen, auch weil solche Veranstaltungen natürlich immer nur vor einem begrenzten Publikum stattfinden – vor allem wenn man sie in Trier organisiert (lacht).
Wie funktioniert eine kollektive Herausgeberschaft?
Es gab verschiedene Aufgabenbereiche z. B. für Organisatorisches, Kommunikation mit dem Verlag, den Autorinnen und Autoren und natürlich Inhaltliches. Später kam dann das Lektorat der Texte hinzu, wozu natürlich auch formale Aufgaben zählten, wie Zeichensetzung, Rechtschreibung, einheitliche Zitierweise – das hat am Ende leider einen Großteil der Arbeit beansprucht. Generell haben wir uns oft getroffen und viel kommuniziert. Parallel dazu gab es noch einen Chat, in dem wir uns permanent über Ideen ausgetauscht haben. Wir hatten, glaube ich, auch einen relativ hohen Anspruch an die Texte, haben wirklich sehr viel Zeit in das Lektorat investiert und teilweise sogar nächtelang, meistens in Zweier- oder Dreiergruppen, zusammen lektoriert. Da gab es dann öfter mal Diskussionen; zum Beispiel, was die Wichtigkeit von bestimmten Begriffen betraf oder wie viel Arbeit man sich mit inhaltlichen Fragen machen möchte. Ich glaube, wir haben uns glücklicherweise aber ganz gut ergänzt, was die Affinität für bestimmte Aufgaben betraf. Das hat die Arbeit auf jeden Fall erleichtert.
Zum Zeitpunkt der Publikation wart ihr Studierende. Wie prekär war das Arbeiten an dem Band?
Wir haben das alles ehrenamtlich neben dem Studium gemacht und zu fünft über ein Jahr lang wirklich intensiv an dem Band gearbeitet. Vergütung war nie wirklich ein Thema. Im Nachhinein haben wir ein bisschen Geld durch die Buchverkäufe, Vorträge und Buchvorstellungen verdient, aber die Summe steht natürlich in keinem Verhältnis zu der Arbeit, die wir uns gemacht haben. Finanziell lohnt sich so etwas nicht. Gleichzeitig waren wir aber alle auch daran gewöhnt, so zu arbeiten, weil wir uns schon länger neben dem Studium mit Gesellschaftstheorie auseinandergesetzt und in diesem Rahmen als Rosa Salon ziemlich viele Veranstaltungen organisiert haben – teilweise drei oder vier in der Woche.
Wie hat die Arbeit an dem Band deine eigene Sicht auf das aktuelle politische Zeitgeschehen in Bezug auf die Attraktivität autoritärer Denk- und Handelsweisen verändert?
Ich glaube, mir ist der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Vergesellschaftung und Autoritarismus noch einmal verstärkt klar geworden. Es darf dabei eben nicht um eine Psychologisierung der einzelnen Individuen gehen, sondern darum, die Gesellschaft, die diesen Autoritarismus produziert, zu kritisieren. Gleichzeitig muss man sich faschistischen oder autoritären Individuen natürlich trotzdem entgegenstellen. Noch ein Punkt, der mir in der Auseinandersetzung mit dem Thema klargeworden ist, ist, dass es eben ein irrationales Phänomen ist, dem nur sehr begrenzt mit Argumenten beizukommen ist. Es braucht viel eher grundlegende gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen, um autonomes Denken und Selbstreflektion zu fördern und damit der Entstehung von autoritären Charakterstrukturen den Nährboden zu entziehen.
Andreas Stahl / Katrin Henkelmann / Christian Jäckel / Niklas Wünsch / Benedikt Zopes (Hg.): Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters, Verbrecher Verlag, Berlin 2020, 424 Seiten.
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