Sie hat einen Namen: Chanel Miller

TRIGGERWARNUNG: IN DIESEM TEXT GEHT ES UM DAS THEMA VERGEWALTIGUNG. Chanel Miller hat eine Vergewaltigung überlebt. An einem Abend, an dem sie eher zufällig auf eine College-Verbindungsparty ging, hat Brock Turner seine Finger in ihre Vagina gesteckt, während sie bewusstlos hinter einem Müllcontainer lag. Für Chanel beginnt damit ein jahrelanger, zehrender Prozess, während dem sie ihre Identität geheim hält und von Richtern, Verteidigern und den Medien auseinandergenommen wird. Doch jetzt hat sie ein mutiges Buch über die Schrecken der Vergewaltigung und des Gerichtsprozesses geschrieben, an dessen Ende der Vergewaltiger Brock Turner nur drei Monate ins Gefängnis kam und die Gesetze in Kalifornien zugunsten der vergewaltigten Personen geändert wurden.

Chanel Millers erstes Buch. Foto: Karolin Kolbe

Ich glaube bis zum heutigen Tag, dass nichts von dem, was ich an jenem Abend tat, von Bedeutung ist, dass es sich lediglich um eine Handvoll austauschbarer Erinnerungen handelt. Aber diese Ereignisse werden unaufhörlich ausgegraben werden, wieder und wieder und wieder. Was ich getan habe, was ich gesagt habe, wird gedreht, gewendet, seziert und der Öffentlichkeit zur Beurteilung vorgelegt. All das, weil irgendwo auf einer Party auch er war.

Bis zum Tag ihrer Vergewaltigung führt Chanel ein Leben, in dem sie sich wohlfühlt. Anfang zwanzig, gerade fertig mit der Uni in ihrem ersten Job, fängt sie das selbstbestimmte Leben einer jungen Erwachsenen an. Sie hat einen Freund in Philadelphia, mit ihrer Familie pflegt sie ein enges Verhältnis, besonders ihre kleine Schwester Tiffany steht ihr nahe. Am Abend der Vergewaltigung hat sie Brokkoli mit Reis gegessen, das muss sie in den folgenden Jahren immer wieder erzählen. Dann hat sie sich eher spontan ihrer Schwester und deren Freundinnen angeschlossen, um auf eine College-Party zu gehen. Chanel, die älter ist, als die anderen Partygäste, begleitet die anderen, weil sie es lustig findet, peinlich tanzen will und ihre Schwester ein bisschen blamieren möchte. Sie trinkt Alkohol, sie hat einen Filmriss. Dann wacht sich in einem Krankenhaus auf. Ihr Haar ist voller Kiefernnadeln, ihre Unterhose fehlt, sie hat Abschürfungen auf der Haut. Chanel kann nicht einordnen, was passiert ist, erinnert sich nicht. Kurz darauf soll sie ein Formular unterschreiben.

Ich stockte, als ich das Wort Vergewaltigungsopfer fett gedruckt oben auf einer Seite entdeckte. Ein Fisch sprang aus dem Wasser. Ich hielt inne. Nein, ich stimme nicht zu, ein Vergewaltigungsopfer zu sein.

Der Alltag als Zereißprobe

Es dauert, bis Chanel den Gedanken, dass sie Opfer einer Vergewaltigung geworden ist, zulassen kann. Sie versucht ihre Schwester, die Bescheid weiß, zu beruhigen. Ihren Eltern und ihrem Freund erzählt sie nichts, aus Angst, dass sie sich Sorgen machen. Chanels Alltag wird zur Zereißprobe

Ich stand mit je einem Fuß in zwei unterschiedlichen Welten, in einer, in der nichts passiert war, und in einer, in der ich möglicherweise vergewaltigt worden war.

Die Ergebnisse kommen, sie hat Abschürfungen in der Vagina, Sperma ist keins da. Es wird angenommen, dass Brock Turner, so heißt der neunzehnjährige Täter, vorhatte, sie auch mit dem Penis zu penetrieren, doch zwei junge Schweden schritten dazwischen, verfolgten ihn und hielten ihn fest, bis die Polizei kam. Die Schweden bleiben für Chanel das Symbol des Anderen, Guten, Einschreitenden. Das Symbol für Hilfe. Und irgendwann erzählt sie ihrer Familie doch, dass sie das Mädchen aus den Medien ist, das ab der Taille aufwärts nackt auf dem Stanford-University-Gelände gefunden wurde. Dann trifft Chanel eine gewichtige Entscheidung. Es ist eher ein Nebensatz, in dem Chanel bejaht, dass sie klagen will. Niemals hätte sie gedacht, dass ein jahrelanger Prozess folgt. Für sie liegen die Verhältnisse klar auf der Hand. Für das US-amerikanische Gericht nicht.

Jede Menge Systemfehler

Was Chanel nicht weiß: Brock Turner wurde wenige Stunden nach der Verhaftung auf Kaution wieder freigelassen.

Ich wusste nicht, dass Geld die Gefängnistüren öffnen konnte. Ich wusste nicht, dass eine Frau, wenn sie betrunken war, nicht ernst genommen würde. Ich wusste nicht, dass er, da er betrunken war, als es zur Gewaltat kam, Mitgefühl erfahren würde.

Das bleibt nicht das einzige Privileg, das der reiche weiße Junge, dem eine Schwimmerkarriere prophezeit wird, innerhalb der Prozesse bekommen wird. Wenn Chanel die Kommentarspalte in den Medien liest, wird ihr übel. Die Schuld wird häufig ihr zugeschoben, hätte sie doch weniger getrunken, hätte sie mehr angezogen, Brock Turner ist doch Sportler, jede Frau will etwas von ihm, sie hat sein Leben und seine Karriere zerstört. Auch im Gerichtssaal herrscht von Seiten der Verteidigung diese Erzählung vor. In seiner Eklärung formuliert Brock Turner, es habe Chanel gefallen, sie hätte ja gesagt und in alles eingewilligt.

Ehrlichkeit war Kinderkram. Brock würde sagen und tun, was ihm nutzte, er war völlig unverfroren in seiner Selbstgerechtigkeit. Er hatte sich einmal erlaubt, in mich einzudringen, diesmal hatte er mir Worte in den Mund gestopft. Er hatt mich zu seiner Bauchrednerpuppe gemacht, die Hand in mich gesteckt und mich reden lassen.

Doch es ist Chanels Statement, das Wellen schlägt. Sie verbleibt hinter dem Pseudonym Emily Doe. Chanels Statement, das auf BuzzFeed veröffentlicht wird, geht um die ganze Welt und ihr Fall gerät noch mehr in den Fokus der Öffentlichkeit. Sie bekommt unterstützende Nachrichten und Dank von anderen Betroffenen. Es sind diese Dinge, die Chanel in der schlimmen Zeit helfen. Sie lebt auf die Prozesstage hin, kündigt ihren Job, besucht Mal- und Druckkurse, zieht wieder bei ihren Eltern und bei ihrem Freund ein. Ihr selbstbestimmtes Leben gibt es in dieser Zeit nicht mehr. Die Vergewaltigung und der langwierige Prozess bestimmen ihren Alltag.

Brock ist schuldig

Brock wird schuldig gesprochen. Zum Entsetzen von Chanel, ihren Anwältinnen und der Öffentlichkeit, wird Brock Turner zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, die letztlich drei sein werden. Der verantwortliche Richter Aaron Persky wird später von den Einwohner*innen Kaliforniens abgesetzt, er war auch mal Elitesportler und begründet das milde Urteil damit, dass ein längerer Gefängnisaufenthalt Brock Turners Zukunft negativ beeinflussen könnte. Hier sind sie, die white privileges, die Brock Turner hat, der sich die teuersten Anwälte und hochpreisige Hemden für die Verhandlung leisten kann.

Chanel Miller findet Worte und Bilder

Chanel Miller lässt die Leser*innen an den inneren und äußeren Prozessen teilhaben. Ich habe einen Namen ist ein Buch, das mitnimmt, das man zur Seite legen muss, um alles zu verdauen. Chanel Miller findet Worte für etwas, wofür man keine Worte finden kann. Sie erschafft Bilder, sie zeigt, was die Vergewaltigung und der Prozess mit ihr, ihrer Familie und ihren Freund*innen gemacht hat. Die Autorin weist auf die vielen Systemfehler hin, auf das Gefälle zwischen Täter und Opfer, weißem Mann und PoC-Frau, Reichtum und Normalverdienern und sie ist wütend darauf.

Das Verhalten der Männer war die Konstante, während wir die Variable waren, die sich zu ändern hatte. Wann war es eigentlich unsere Aufgabe geworden, allem vorzubeugen, uns um alles zu kümmern?

Der Prozess fällt in die Zeit der Wahl von Donald Trump, in die Zeit von „grab them by the pussy“ und „locker room banter“. Auch hier zieht Chanel systhematisch Verbindungen und bettet ihren Fall dort hinein.

Wir leben in einer Zeit, in der es schwierig geworden ist, zwischen den Worten des Präsidenten und denen eines neunzehnjährigen Sexualstraftäters zu unterscheiden.

Chanel Millers Buch ist mutig, klug, erschütternd, ehrlich und intim. Es trotzt vor bewegenden, starken und durchdachten Sätzen und ganzen Absätzen, weswegen dieser Text zu einem großen Teil auch aus Chanels eigenen Worten besteht. Sie schreibt, dass sie niemals gedacht hätte, was für Auswirkungen der Fall haben wird. Die Gesetze in Kalifornien wurden verändert, ihr Statement vielfach veröffentlicht und zitiert und vor allem erhebt sie die Stimme und klagt Brock Turner und das System, das ihn schützt, an.

Du willst die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit? Die Antwort saß mit hängenden Schultern, gesenktem Blick und frisch geschnittenen Haaren da. Willst du wissen, warum es meiner ganzen verdammten Familie dreckig geht, warum ich meinen Job verloren habe, warum mein Bankkonto nur noch vier Stellen hat und meine Schwester ihre Vorlesung verpasst? Weil ich an einem kühlen Januarabend ausgegangen bin, als der Kerl da beschloss, dass er eine ficken wollte, ob Ja oder Nein, ob reglos oder nicht, er beabsichtigte, eine zu ficken und zufälligerweise war diese eine ich.

Chanel Miller ist aus der Anonymität herausgetreten. Sie stellt sich mit ihrem Gesicht und ihrem Namen in die Öffentlichkeit, sie erzählt von den schlimmen Erfahrungen, die sie machen musste und sie hofft, dass sich das System und der Umgang mit den Opfern ändern wird. Ihr Buch ist ein Meilenstein. Auf Deutsch umfasst es beinahe 500 Seiten und das ist gut so. Chanel nimmt sich ein Stück des Raumes, der ihr im Gericht zugestanden hätte und der ihr nicht geboten wurde.

Ich schreibe, um zu zeigen, wie die Opfer zu diesem Zeitpunkt der Geschichte behandelt werden, um aufzuzeigen, welche Temperatur in unserer Kultur vorherrscht. Ich markiere den Stand der Dinge und ich hoffe, dass sich die zermürbenden Nachwirkungen dessen, was es bedeutet, ein Opfer geworden zu sein, in zwanzig Jahren fremd anfühlen wird.

Chanel Miller: Ich habe einen Namen, Ullstein 2019.

Karolin Kolbe
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