TDDL16 — Der Samstag

Von betrunkenen Bäumen und rassistischen Räumen: Am letzten Lesetag um den Bachmannpreis polarisierten die Texte deutlich. Die Jury war sich ab und an sogar mal einig. Lest hier unser Resümee des dritten Tages.

© Detlef Heese
© Detlef Heese

Ada Dorian – Betrunkene Bäume

von Hannah Kaiser und Charlotte Kirstein

Am Morgen des dritten Tages scheint das Publikum noch etwas verschlafen: Mehrere Zuschauer lesen nicht mit, einige sitzen sogar mit geschlossenen Augen im Studio. Auch bei uns in der litaffin-Redaktion liegt die Mehrheit noch gedanklich in den Federn. Ada Dorians Videoporträt wirkt da nicht gerade aufmunternd. Wie sie durch einen moosigen Wald und ein verfallenes Haus schleicht, nachdenklich Erde zwischen den Fingern zerreibt und immer wieder mit schönen, beringten Händen über raue Wände und Baumstämme streichelt, lässt einen mit wenig Vorfreude auf den bevorstehenden Text blicken. „Ich verabscheue Smalltalk. Ich bin gut darin, aber er ist mir zuwider.“ Bei diesen ersten Worten der Autorin kommt die Angst auf, dass wir gleich wieder gesellschaftskritisches Gejammer zu hören kriegen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ada Dorian nimmt sich als Person völlig zurück und präsentiert einen handwerklich sehr guten Text, der zwar packt, aber keine leidenschaftlichen Reaktionen weckt.

Der Beginn von Dorians Text greift das zuvor inszenierte Bild von Wald und Natur auf. Wieder tasten Hände über Pflanzen, zerkrümeln Erde. Fast liegt der Geruch des Waldes in der Luft. Auch wenn sie mit ihrer leiernden Vortragsweise erneut Müdigkeit erzeugt, fängt einen die Welt, die in dem Text aufgebaut wird, sofort ein. Die beiden Figuren, Erich und Katharina, die durch Zufall in einem heruntergekommenen Wohnhaus zusammenkommen, sind verbunden durch ihren Sehnsuchtsort Sibirien. Während Katharinas Vater dort arbeitet, ist Erichs Frau Dascha in ihren russischen Heimatort zurückgekehrt. Gefangen in dem Haus, versuchen die beiden, sich mit den verschiedensten Mitteln eine Gegenrealität zu schaffen. Erich, Katharina, Irina – sensibel und klar gezeichnet, öffnen sich Dorians Figuren den LeserInnen und ermöglichen eine Annäherung.

Diese Verständlichkeit entsteht auch durch den gefälligen, von der Jury einerseits als altmodisch, andererseits als nüchtern beschriebenen Stil, der sich angenehm von den selbstbezogenen Ich-Erzählern junger AutorInnen abhebt. Der Text ist gut konstruiert. Und er ist auch gut erzählt, mit Spannungsbögen, die wirken. Eigentlich gibt es an der Oberfläche nicht besonders viel zu bemängeln. Vielleicht ist das der Grund für die Jury, ihn als überdeterminiert zu kritisieren. Zu viele Symbole seien miteinander verwoben, zu viel wolle der Text auf engem Raum zusammenbringen. Ob dabei eine Rolle spielt, dass der Text ein Ausschnitt aus Dorians im nächsten Jahr erscheinenden Roman ist, wäre eine Überlegung wert. Insgesamt sind die Bilder nicht neu und bieten keine Überraschung. Funktionieren tun sie trotzdem.

Die Gefälligkeit von Dorians Text ist Fluch und Segen. Denn auch wenn er nicht durch herausragende Kreativität überzeugt, in der vorherrschenden Samstagmorgenstimmung holt er die ZuhörerInnen mit all seiner Melancholie gut ab. Wenn der Text ein Aktie auf den zukünftigen Roman ist, wie Klaus Kastberger behauptet, dann ist diese Aktie eine solide Investition.

© Ralf Steinberger
© Ralf Steinberger

Sharon Dodua Otoo – Herr Göttrup setzt sich hin

von Nadja Leibelt

Freunde, die gemeinsam jammen, in Schwarzweiß. Und dazwischen ein bunter Strauß Sonnenblumen. So wird Sharon Dodua Otoo, die erste schwarze Teilnehmerin in der Geschichte des Bachmannpreises, im Videoporträt vorgestellt. Nicht nur ihre Einladung war eine politische Entscheidung, auch die Lobeshymnen auf den Text „Herr Gröttrup setzt sich hin“ sind es.

Die Antirassismus-Aktivistin wählt das deutscheste Szenario, das sich für einen Text finden lässt: Das gealterte Ehepaar am Frühstückstisch. Ganz in Loriot’scher Manier, wie die Jury bemerkt. Bewundert Herr Gröttrup anfangs noch die Pünktlichkeit der vorbeifahrenden Regionalbahnen, kontrolliert gewissenhaft die Außentemperatur und fährt mit Frau und Wackeldackel spazieren, so lässt die Kritik am bürgerlichen Setting nicht lange auf sich warten. Das 7 ½ Minuten-Ei ist nicht hart – und es spritzt auf Herrn Gröttrups Krawatte. Ist es die Schuld der Ehefrau, die ihren leisen Groll darüber, der Pedanterie ihres Ehemannes nicht gerecht zu werden, konsequent hinunterschluckt? Hat Herr Gröttrup den Luftdruck in der Küche nicht ordentlich kontrolliert oder war der Kühlschrank zu kalt eingestellt? Nein, das Ei ist plötzlich ein eigenständig denkendes Wesen, das sich entschieden hat, heute nicht hart zu werden.

Und plötzlich ist das Ei nicht nur ein Ei, es war einst auch ein Lippenstift und wird irgendwann zur Stolperfalle für Robert Mugabe, Präsident von Simbabwe. Jurymitglied Hildegard Keller sieht darin das alles umfassende Subjekt, das sich weigert, sich irgendwo einordnen zu lassen. Ein weltumfassendes Wesen, das sich immer wieder auf den religiös-spirituellen Weg der Reinkarnation begibt. Nur um einem senilen alten Ehepaar aufzuzeigen, dass sie sich mit ihrem subtilen Hass selbst zerstören. Auch die historische Perspektive will die Jury nicht außer Acht lassen. Irmgard und Helmut Gröttrup sind reale Figuren der Geschichte: Als Raketeningenieur wurde Helmut Gröttrup mit seiner Familie nach dem Zweiten Weltkrieg in die sowjetische Besatzungszone gebracht, um für den Osten wichtige Forschungsergebnisse zu liefern. Ebenso war er Erfinder der Chipkarte. „Da kommt eine britische Autorin, die uns diesen Teil vergessener deutscher Geschichte erzählt“, wie Sandra Kegel betont. Der leichte, heitere Ton macht den Text eingängig, die moralische Botschaft scheint klar. Da braucht es, aus der Sicht Meike Feßmanns, das Zusammentreffen der Putzfrau mit dem überkorrekten Hausherren am Ende fast gar nicht.

Loriot’scher Humor, ein bisschen Kalter Krieg und eine surreale Parabel auf das „Unheimliche am Küchentisch“, das die Welt zu erschüttern vermag. Otoo arbeitet mit den Zutaten, die Kritikerherzen schon immer zu erweichen vermochten. Aus diesem Grund scheint sie mit ihrem „Swing und Drive“ (Klaus Kastberger) schon jetzt als heiße Anwärterin auf den Ingeborg-Bachmann-Preis.

© ORF / Andreas Hornoff
© ORF / Andreas Hornoff

Astrid Sozio – Das verlassenste Land

von Ann-Kathrin Canjé

 1 (Apathie)

Alles beginnt mit einem Nordlicht. Es folgen Eisschollen. Ich bin fest davon überzeugt, dass das eines dieser ironischen Videoporträts sein muss. Folgt ein ironischer Text? Leider nein. Astrid Sozio beginnt wie eine Getriebene und rennt mit ihrem Text davon. Ich mache die Aufregung dafür verantwortlich.

Ihr Gesicht war schwarz wie lackiert, die Augen blendend weiß darin. Das war nicht Gertrud, das war die Negerin. Wieder die Negerin.

Bums, da ist er. Der Satz, der mich aussteigen lässt, obwohl ich noch nicht richtig in den Text eingestiegen bin.

2 (Ratlosigkeit)

Mir macht es Angst, so schwarz auf weiß. N e g e r. So böse im Ohr. Ich sehe sie vor mir, die alte, klischeebehaftete, rassistische Bewohnerin des leerstehenden Hotels, wie sie da sitzt und die Anderen, die Armen, die Ausländer beobachtet. Vereinsamt, gepeinigt von ihrer Vergangenheit. Wie sie an ihr Früher denkt und damit ihr Heute rechtfertigt. Und ich mag sie nicht. Erst recht nicht, wenn Sozio mit einem Mal auf den Zug der trällernden AutorInnen aufspringt und beginnt, die „Negerlieder“ ihrer Figur zum Besten zu geben.

3 (Wut)

Langsam werde ich wütend. Rassistin und Flüchtling treffen aufeinander. Ich male mir schon das Ende der Geschichte aus. Sie freunden sich an, die Erzählerin lernt eine ihr völlig fremde Welt kennen und verstehen, engagiert sich am Ende vielleicht sogar selbst im Flüchtlingsheim. Sie ist gerettet und die Welt gleich mit. So einfach ist es in der Realität leider nicht. Wütend werde ich bei diesem Aufeinandertreffen vor allem durch die Sprache. „Und was immer mich da hielt, hatte Kraft.“ Die Geflüchtete wird zu einem „etwas“. Alles Menschliche wird ihr dadurch abgesprochen. Das ist mir zu viel. Ich verstehe, dass der Text provozieren möchte, natürlich soll die Ich-Erzählerin abstoßen. Das ist Sozio gelungen. Doch für mich funktionieren der Text und die Figur nicht.

4 (Zustimmung)

Auch die Jury ist sich ausnahmsweise ziemlich einig und findet treffende Beschreibungen. Während Hubert Winkels von Über-Ich und Es faselt, entdecke ich in Sandra Kegel meine neue Jury-Favoritin. Sie spricht von falschen Analysen, die der Text begehe. Davon, dass die heutigen Gesellschaftsprobleme den „Alten“ in die Schuhe geschoben werden und somit das Problem trivialisiert werde. Genau das vollzieht der Text, wenn auch unbeabsichtigt. Kegel spricht treffend von „Kurzschlussliteratur“ aus der „Poesieapotheke“, die hofft, die böse Welt wieder besser schreiben zu können. Für Hildegard Keller ist die unzuverlässige Erzählerin sprachlich nicht überzeugend umgesetzt. Eine einfache alte Frau, die simultan Englisch übersetzt und sich in der digitalen Welt auskennt – das ist unglaubwürdig. Auch Meike Feßmann bezeichnet den Text als missglückt und fragt sich, ob die Autorin wissentlich naiv sei oder ob sie provozieren wolle. Klaus Kastberger hat sogar brav mitgezählt und stört sich ebenfalls daran, dass 13 Mal das Wort Negerin, 3 Mal Neger und 2 Mal Zigeuner fällt. Er sieht zwar die provokative Absicht des Textes, fragt sich aber, wozu sie gedient habe. An wen wendet er sich? Soll er aufklärerisch wirken? Das frage ich mich auch.

Astrid Sozio tut mir nach dieser einhelligen harten Kritik zwar sehr leid, aber: Es geht schließlich um Literatur, nicht um Befindlichkeiten.

© ORF / Renny Rova
© ORF / Renny Rova

Dieter Zwicky – Los Alamos ist winzig

von Sebastian Rauball

Ein unzuverlässiger Erzähler, ein ehemals krebskranker Schweizer Ingenieur, entführt uns in eine surreale Welt zwischen Los Alamos, Mäusen und der Beziehung zu seiner Frau Jacqueline. Von der von der Jury vielgelobten Vortragsweise des Textes geht seine Kraft aus. Der ruhige Vortrag evoziert die zauberhafte Welt von Los Alamos, wo Mäuse erblinden und ein Straßenzug allstündlich in „frenetisches“ Licht getaucht wird. Dem Erzähler kann man nicht trauen, er litt an Zungenkrebs, besiegte ihn, aber behält das für sich. Seine Frau Jacqueline arbeitet deshalb an seiner Stelle beim Wasseramt.

Von der Jury in weiten Teilen positiv aufgenommen, ist Los Alamos ist winzig für Sandra Kegel ein „Text, der in Rätseln spricht“, für Hildegard Keller ein „Text ohne Zentrum“, der „in der Wüste herumdeliriert“, ein „Labyrinth des Erzählens, das auch gar kein Erzählen mehr sein will“. Für Hubert Winkels ist es gar eine Art „Nonsenspoesie“, von einem laut Stefan Gmünder „unsicheren Kantonisten“ vorgetragen. Von Klaus Kastberger wird der Text als „faszinierend“ bezeichnet und von Meike Feßmann als perfekter Abschluss des Wettbewerbs beschrieben, der nicht zuletzt wegen des Nachnamens des Autors und seiner kafkaesken Schreibweise mitsamt eines „etwas irren Ich-Erzählers“ einen Bogen schließt.

Los Alamos erscheint dem Leser als Spannungsfeld zwischen Idylle oder Apokalypse, Schauplatz der surrealen Erlebnisse des Erzählers, der eine Reinigung ohne Eingang oder Ausgang beschreibt, Zauberer, die allüberall umherstreifen, und das Gespräch mit einer alten Dame, die den Namen ihres Sohns vergisst und den „begehrenswerten“ Männertypus des stinkenden, zwergwüchsigen Tolpatsches Quinnie einführt.

Der von Juri Steiner ins Rennen geschickte Text überzeugt ihn durch sein paralleles „nach hinten und nach vorne Zaubern“, er fühlt sich an einen Zauberkünstler erinnert, der mit der einen Hand das Publikum ablenkt, während er mit der anderen seinen Trick durchführt. Das Besondere sei, dass man nicht wisse, welche Information der Geschichte nun der Trick und welche die Ablenkung sei.

Der Text überzeugt auch mich durch seine sprachliche Vielfältigkeit, genannt sei hier exemplarisch die Wortneuschöpfung „nervotisch“, sowie insbesondere seine Vortragsweise. Überdeutlich Bezug nehmend auf Kafka und Robert Walser, ist die Zielrichtung des Textes ansonsten allerdings unklar.

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