Zähme deinen Kreis

In seinem Debüt „Der unsichtbare Apfel“ stellt Robert Gwisdek Fragen, ohne sie zu beantworten – und doch denkt man bei der Lektüre, die Weisheit mit dem Löffel zu fressen. Ist man am Ende wirklich schlauer? 

gwisdekWer versucht, Robert Gwisdeks Romandebüt „Der unsichtbare Apfel“ in ein einziges großes Schema zu übersetzen, muss scheitern. Die Worte „Unendlichkeit“, „Sinne“, „Spiegel“, „Auge“ und „Kreis“ blitzen dem, der es doch wagt, gelb markiert auf seinen Notizen entgegen. Nach der Lektüre gilt es zunächst, Erzählstränge und Gedankengänge des Autors zu entwirren. Aber dann, aber dann!

Verstehen, was die Welt im Innersten zusammen hält

„Mit fünf stellte er zum ersten Mal fest, dass er stattfand. Es erstaunte ihn.“ Eigentlich ist Igor ein normaler Junge, doch Fragen nach dem Ursprung der Dinge haben ihn aufgewühlt, so lange er denken kann. „Weshalb gab es das Leben, woraus entwickelte es sich und warum starb es wieder?“ Igor richtet seine Fragen an „die Welt“, die logischerweise nicht antworten kann. Darin besteht sein Dilemma, denn wer, wenn nicht „die Welt“ selbst, sollte wissen, wie sie entstanden ist. „Die Welt“ nimmt für ihn Gestalt an, er personalisiert sie. Die komplette Konzentration auf den Dialog mit der Welt, das wär`s, denkt sich Igor, und heckt einen Plan aus, wie er seine Sinne ganz und gar auf das Erreichen seines Ziels richten kann. Hundert Tage lang will er in einem vollkommen dunklen Raum ohne Geräusche Antworten finden. An Tag 81 verändert sich plötzlich alles. Igor wird von seltsamen Gestalten aus dem Raum abgeholt. Ob dies wirklich geschieht oder nicht, bleibt zunächst offen. Erst in den folgenden Szenen wird klar, dass wir uns in Igors Unterbewusstsein befinden. Auf einer Reise in sein eigenes Gedankengebäude durchläuft er Räume, die seine Erinnerungen und unverarbeiteten Erlebnisse beherbergen. Kann diese Form der Eigentherapie funktionieren? Am Ende der Isolation hat Igor es geschafft. Er hat mit der Welt gesprochen. Doch ihre Antworten sind mehr als unbefriedigend – für Igor. Und auch für den Leser.

In guter Gesellschaft

Einfühlsam und mit geschickten handwerklichen Kniffen tritt Gwisdek in „Der unsichtbare Apfel“ an die tonnenschwere Frage heran, wie man mit einer Welt in Einklang kommen kann, deren Ursprung ein Rätsel ist. So wird Igor nicht nur während seines Abenteuers der Spiegel vorgehalten, auch Textpassagen spiegeln sich und versteckten Perspektivwechseln kommt man erst ganz zum Schluss auf die Spur. Ein Beispiel hierfür ist Igors Begegnung mit dem „Kreis“, der im Roman für die Unendlichkeit steht: „Er gab ein tiefes Brummen von sich und seine Geschwindigkeit war so hoch, dass Igor sich in seiner Oberfläche spiegeln konnte.“ Anschließend geschieht alles gerade Erlebte erneut – allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Das heißt die exakt gleichen Absätze dieser Passage erscheinen noch einmal, der letzte zuerst und so weiter. Der Protagonist spiegelt sich in dieser Schlüsselszene und der Leser erlebt die Spiegelung auf dem Papier optisch mit.

Offensichtlich war Gwisdek während des Schreibens – gedanklich – in guter Gesellschaft. E.T.A. Hoffmanns Einfluss zum Beispiel kann man hier und da entdecken. Igor weist Außenseiter-Züge von Klein Zaches auf, gleichzeitig erinnert er an die Naivität von Anselmus („Der goldene Topf“) und schließlich zieht sich das Motiv des Auges („Der Sandmann“) durch den ganzen Roman. An anderer Stelle findet sich Igor scheinbar plötzlich inmitten zweier Kafka-Texte wieder: Der einzige Gefährte in seinem dunklen Raum ist ein Käfer ist und wenig später soll er im Gerichtsaal sein eigenes Urteil sprechen. Manchmal im Ton eines Kunstmärchens, ab und zu kafkaesk, flicht Robert Gwisdek Charakterzüge und Tonalitäten in seine Sätze und Figuren ein, die Brücken schlagen lassen, zu anderen Figuren aus der Literaturgeschichte, die sich in der Krise mit dem eigenen Ich befinden.

Mutig ist das. Denn wer sich in den großen Werken der Weltliteratur bedient, sollte den Geistern, die er da ruft, auch gewachsen sein. Leider gelingt es Gwisdek – vielleicht gerade durch die beim Leser geweckten Assoziationen mit den Großen der Literaturgeschichte – nicht immer, sprachlich mitzuhalten. Da „erfasste“ Igor „tiefe Angst“, er „verfiel in Panik“, „blickte neugierig“ oder „versank verzweifelt in seinen Stuhl“. Manchmal ergriff ihn gar „tiefes Mitleid“ oder „bitterer Stolz“. Sieht man über die kleinen sprachlichen Holperer hinweg, funktionieren die Anspielungen auf die Weltliteratur aber wunderbar. Man kann jene Texte, die den Autor womöglich selbst beeinflusst haben, zwischen den Zeilen lesen – das macht das Debüt und seinen Schreiber greifbarer. Fakt ist, dass sie beim Lesen Assoziationen wecken, die die Wirkung des Romans und seines Protagonisten ganz klar beeinflussen. So steckt Igor schnell mal in der Schublade des ewig Suchenden, des Romantikers. Doch auch so können die Anspielungen die eigenen Vorstellungen anregen und idealerweise sogar bereichern.

Die Beantwortung aller Fragen ist, dass es keine Antwort gibt

Nach 357 Seiten harter Lesearbeit, mag manch einer enttäuscht sein: Die Antwort ist, dass es keine allgemeingültige Antwort gibt. Was jedoch alles andere als ernüchternd ist, ist die Art und Weise, mit der Gwisdek diese Quintessenz vermittelt. „Der unsichtbare Apfel“ könnte genauso gut eine Versuchsbeschreibung sein, eine wissenschaftliche Abhandlung mit hochinteressanten Erkenntnissen. Gwisdek steckt seinen Protagonisten in einen Glaskasten und die ganze Leserschaft schaut dabei zu, wie Igor das durchlebt, was sich keiner jemals trauen würde. Sind wir nicht alle auf der Suche nach dem Woher, Warum und Wohin? Universum. Traum. Bewusstsein. Geist. Igor schafft es, den großen Begriffen der Menschheit eine greifbarere Form zu geben: Dreiecke und Kreise.

Man könnte Robert Gwisdek einen Formenphilosophen nennen. Das Dreieck steht im Buch für die Endlichkeit, den Tod. Der Kreis ist Symbol für alles Unendliche. „Zähme deinen Kreis“, denn er ist immer der Spiegel seines Gegenübers und reflektiert dessen Stimmung. In seiner Mitte steckt ein unsichtbarer Kern, er ist apfelgroß und weiß wie eine Iris. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, in Gwisdeks unsichtbarem Augapfel steckt die Weisheit von Saint-Exupérys Kleinem Prinzen. Wer lernt, mit seinem inneren Auge zu schauen, wird Zusammenhänge erkennen – wenn auch nur, dass es keine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gibt. Die Selbstverständlichkeit des Daseins und das Akzeptieren von beidem, der Unendlichkeit und der Endlichkeit, ist der Schlüssel zum inneren Frieden. So ungefähr könnte die „Übersetzung“ der Formenphilosophie für Anfänger lauten. Schlauer macht sie uns vielleicht nicht. Und doch sind wir reicher – an erfrischendem Lesestoff eines kreativen und innovativen Autors.

Robert Gwisdek: Der Unsichtbare Apfel. Roman. Kiepenheuer&Witsch. 2014.

Eva Schneider

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