Zwischen Merguez und Tränengas

Rassismus, Polizeigewalt, Wut, Trauer und nicht zuletzt: Solidarität und Gemeinschaft. Das ist die Mischung die Diaty Diallos Debütroman Zwei Sekunden brennende Luft ausmacht. Der Roman ist eine eindrucksvolle Gegenerzählung der Wut der Jugendlichen aus den französischen Banlieues im Angesicht des Hasses und der Ausgrenzung, die ihnen entgegenschlagen.

Foto: Johanna Schnitzler

27. Juni 2023: Der 17-Jährige Nahel wird in Nanterre, einem Vorort von Paris, von einem Polizisten erschossen. Daraufhin gibt es wochenlang Unruhen in ganz Frankreich – brennende Autos, eingeschlagene Schaufenster, zerstörte Häuser. Eine Rebellion vor allem ausgehend von Jugendlichen, deren Wut über Polizeigewalt, Rassismus und Ausgrenzung sich Bahn bricht. Mit ihrem Debütroman Deux secondes d’air qui brûle hat die französische Autorin Diaty Diallo 2022 diese Eskalation vorweggenommen und gleichzeitig eine Alternative gängiger Gewaltdarstellungen entworfen. Im Sommer 2023 erschien nun bei Assoziation A die deutsche Fassung Zwei Sekunden brennende Luft, übersetzt von Nouria Behloul und Lena Müller. Dass das Buch auch heute hochaktuell wirkt, ist Ausdruck der Allgegenwärtigkeit rassistischer Polizeigewalt: Im Jahr 2022 starben 13 Menschen bei Polizeiverkehrskontrollen – ein trauriger Rekord. Die Debatten um Racial Profiling, die Ausweisung „kriminalitätsbelasteter Orte“ und all die Fälle rassistischer Polizeigewalt auf Demonstrationen und im Alltag zeigen, dass auch Deutschland dahingehend ein massives Problem hat. Nahel ist kein Einzelfall.

Aber zurück zu Diallos Buch. Die 33-jährige Autorin erzählt darin die Geschichte von Astor und seinen Freunden Chérif, Issa, Demba und Nil. Sie erzählt aber auch die Geschichte des Milieus und der Gemeinschaft, die die Figuren in einem Vorort von Paris umgeben. Diallo weiß, wovon sie spricht: Auch sie ist in den Vorstädten von Paris aufgewachsen und lebt noch immer dort. Die Realität, von der sie in dem Roman erzählt, ist ihre eigene. Ihre Figuren leben ihren Alltag umgeben von Hochhäusern, Beton und der Pyramide über einem Parkhaus, um die sich das gemeinsame Leben abspielt. Sie feiern und treffen sich bei über dem Grill brutzelnden Merguez. Unterbrochen werden ihre Begegnungen immer wieder von Konfrontationen mit der Polizei.

„Die Sirenen und Blaulichter fallen nicht groß auf. Sie gehören bei allen guten Momenten dazu. (…) Mit der Erfahrung haben wir gelernt, ihren Befehlen kommentarlos zu folgen, damit das Ganze schneller vorbei ist, die Party weitergeht oder wir nach Hause können.“

Der Abend, der im Zentrum des Textes steht, ist allerdings nicht wie jeder andere: Eine Polizeikontrolle eskaliert. Einer der jüngeren, Samy, wird erschossen – das ist an dieser Stelle kein wirklicher Spoiler, sondern steht bereits im Klappentext. Und trotzdem: Es ist ein Schock. Für Figuren wie für die Lesenden gleichermaßen.

„Und da weiß er, glaubt er zu wissen, dass es vorbei ist mit existieren, wie sie existieren. Bak und er, hier und jetzt: unerwünscht, zu bestrafen, endlos zu viel. Und er hört, glaubt zu hören, wie hinter seinem Rücken der Abzug gedrückt und das Feuer eröffnet wird.“

Zwei Sekunden brennende Luft ist ein eindringlicher Text über Wut und Trauer, über das Ausgeliefertsein, aber auch über Freundschaft, Solidarität, über Gemeinschaft und den Kampf um Selbstbestimmung.
Kurze, prägnante Sätze, ein eindringlicher Rhythmus, viel Slang und Anglizismen und ein bildliches Erzählen zeichnen Diallos Text dabei aus. Hier lassen sich die Figuren keine Gelegenheit entgehen, um aus den Boxen „die besten Tunes zu blasten“ oder „die schlechten Vibes“ aus dem Viertel zu vertreiben. Dass die beiden Übersetzerinnen Nouria Behloul und Lena Müller es geschafft haben, diesen Sound ins Deutsche zu übertragen, ohne dass man über die Sprache stolpert, ist beeindruckend. Durch ihre Prägnanz und indem sie uns sehr nah an den Erzähler Astor und sein Empfinden heranlässt, schafft es Diallo den Kern der Dinge nach außen zu kehren. Der gewaltvollen Absurdität, die dem, was die Figuren durchleben, innewohnt, wird mal mit Ironie und Humor, mal mit schneidender Direktheit begegnet. Dabei schreibt Diallo zum Teil haarscharf an der Grenze zwischen Ernsthaftigkeit und Kitsch.

„Wir kommen zur farblosen Fassade des Polizeireviers. Ich zeige auf einen Baum direkt vorm Eingang. Dort habe ich ein Dutzend Blumentöpfe hingestellt und mein Tränendes Herz eingepflanzt, das am Vortag noch als Gabe für Aïssa gedacht war. Dann ist Samy gestorben, und heute Morgen unter den Wolken und ein wenig in Trance wollte ich, dass die Schuldigen es sehen, mein Tränendes Herz.“

Schlussendlich macht aber genau dieser Kitsch und die überbordende Traurigkeit und Fassungslosigkeit, die in krassem Kontrast zur gewaltvollen Umgebung steht, den Text so eindrucksvoll und die Lektüre so schmerzhaft. Es wird klar, dass die Figuren, um die es hier geht, ganz normale Jugendliche sind. Jugendliche, die das erste Mal verliebt sind, die ein ungestörtes Leben haben wollen und doch durch ihre bloße Existenz immer unter Verdacht stehen. Die unter dem Blick einiger doch immer ein bisschen zu viel sind, immer etwas zu viel existieren.

Dabei erfindet Diallo das Rad thematisch keineswegs neu. Rassistische Gewalt und Ungerechtigkeit, wie auch die ausbrechende Wut der Jugendlichen in den französischen Vorstädten wurden schon mehrfach in verschiedener Form erzählt – man denke nur an Romain Gavras‘ 2022 erschienenen Film Athena oder aber den bereits 1995 erschienen Film Hass (La Haine) von Mathieu Kassovitz. Insbesondere auch im Rap werden diese Themen immer wieder verhandelt. Diallo blendet diese Parallelen keineswegs aus, sondern spielt ganz bewusst mit ihnen. Gerade mit Formen des Raps tritt sie innerhalb ihres Textes in einen Dialog. Immer wieder finden Songtexte Eingang in den Roman und untermauern das Geschehen. Musik und auch Tanz sind hier Ausdruck einer Identitätssuche, aber auch eines gemeinsamen Erlebens, einer geteilten Realität und eines solidarischen Zusammenkommens.

Auch in dem Film Athena geht es um den durch einen Polizisten verursachten Tod eines Jungen. Auch in Athena entzündet sich an diesem Tod der Widerstand der Jugendlichen aus den Banlieues. Aber anders als Athena führt Diallo die Folgen all der Gewalt vor Augen, ohne dabei schematisch oder eindimensional zu bleiben. Die Wut in Athena ist laut, gewaltvoll und unbändig, ein explodierendes Aufbegehren; in Zwei Sekunden brennende Luft ist sie stiller, vielschichtiger und dadurch umso schmerzvoller. Hier geht es nicht nur um die Wut, sondern auch um Trauer, um Fassungslosigkeit und nicht zuletzt um Gemeinschaft. Mit klischeehaften Darstellungen grölender und gewalttätiger männlicher Jugendlicher aus den Vorstädten, wird dadurch aktiv gebrochen.

„Heute Nacht muss etwas beruhigt werden. Zusammen. Etwas Schweres, das gelindert werden muss, weil es nicht geheilt werden kann. Zusammen. Wenn eine Person zu früh aus ihrem Leben gerissen wird, überschwemmt der Schmerz sein Zuhause und strömt auf die Straße. Es ist eine ganze Gemeinschaft, die Schmerzen hat.“ 

Diaty Diallo zieht die Lesenden in ihrem Debütroman ab der ersten Zeile in ihren Bann. Atemlos taucht man einige Stunden später wieder daraus hervor. Mit ihrem Buch schafft sie ein berührendes Bild solidarischer Gemeinschaften und gleichzeitig ein schmerzhaftes Zeugnis rassistischer Polizeigewalt und ihrer Folgen – in Frankreich und darüber hinaus.

Diaty Diallo: Zwei Sekunden brennende Luft. Erschienen bei Assoziation A. 188 Seiten.

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