Adventskalender: Dritte Woche

Ob ihr noch dringend ein Buch zum Verschenken oder zur Ablenkung vom Feiertagsstress sucht oder einen Film, vor dem ihr euch auf dem Sofa zusammenrollen könnt – im Litaffin-Adventskalender werdet ihr fündig. In unserem Adventskalender werden wir über den Dezember bis Weihnachten Rezensionen veröffentlichen, seid gespannt! Jeden Tag auf Instagram und am Wochenende hier auf litaffin.de 

Carsten Henn – Der Geschichten Bäcker

Sofie Eichner, eine begnadete Tänzerin hat einen Unfall auf der Bühne und muss sich nun umorientieren. Ihre Persönlichkeit und einzige Leidenschaft – ihre Welt bricht in sich zusammen. Wir begleiten sie auf der Suche nach sich selbst, der Entfremdung zu ihrem Partner und einer zunächst als Übersprungshandlung erscheinenden neuen Leidenschaft: das Brotbacken. In die Backstube kommt sie nur durch Zufall, fühlt sich dort zunächst nicht wohl und will dort nur so lange bleiben, bis sie etwas Neues gefunden hat. Giacomo, hauptberuflich Bäcker, nebenberuflich Geschichtenbäcker, ist Sofies neuer Chef und legt alle Hoffnung in sie, ihr sein Handwerk zu vermitteln und ihr die Backstube zu vermachen. Auf der Suche nach sich selbst zeigt Sofie dem Lesepublikum, dass es okay ist, nicht zu wissen, wo man steht und hin will, wenn gerade die jahrelange Arbeit und der große Traum zu einem einzigen Scherbenhaufen zerplatzen. Und auch, wenn Sofie zwischendurch den Mut zu verlieren scheint, gibt es immer wieder kleine Lichtblicke, die sie zum Weitermachen ermutigen, kleine Glückmomente und eine sich anbahnende Freundschaft, die ihr zeigen, dass es sich zu kämpfen lohnt. Auch, wenn es sich hierbei vielleicht nur um Plan C handelt.
Carsten Henn schreibt, nach „Der Buchspazierer“, eine weitere berührende Geschichte, die zum Nachdenken anregt und dennoch ein wohliges Gefühl verbreitet – wie ein frisch gebackenes Brot, das man nicht aufhören kann zu verschlingen. Ermutigend und poetisch werden Anekdoten aus dem Bäckersein in den Tanzbereich eingeflochten und dabei wird vermittelt: Es ist okay, nicht okay zu sein, du bist, egal, in welchem Bereich, nicht allein.

Von Vanessa Möller @v_anessa_m

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Carol (Film)

Für alle, die zwischen den ganzen romantischen Komödien auch mal etwas Ernsteres vertragen oder sich gar danach sehnen, möchte ich für Todd Haynes romantisches Periodendrama „Carol“ (2015) eine Empfehlung aussprechen. Der Film ist mit mehrfachen internationalen Nominierungen (darunter Oscars, BAFTAs etc.) sicherlich kein Underdog, aber war vielleicht noch nicht auf jedem Schirm.

Basierend auf einem Roman von Patricia Highsmith, der 1952 unter einem Pseudonym der Autorin erschien, dreht sich die Handlung um Therese (Mara Rooney) und die ältere Carol (Cate Blanchett), die im Amerika der 50er Jahre aufeinandertreffen. Die beiden entwickeln Gefühle füreinander, doch Carol befindet sich in den Zügen einer Scheidung. Zu der Zeit darf sie sich keine ‚unmoralischen Verfehlungen‘ erlauben, ohne sich der Gefahr auszusetzen, das Sorgerecht für ihre Tochter zu verlieren. Trotzdem begeben sich die beiden nach Weihnachten zusammen auf einen Roadtrip.

Wir haben hier keine lustigen, lauten Weihnachtsverpflechtungen, aber umso mehr einen zu Weihnachten zum Ausgleich des Trubels anzupreisender Film. Ruhig und gefühlvoll wird die Geschichte der beiden Frauen erzählt – mit ästhetischen Kameraeinstellungen, in denen vor allem durch Blicke und subtile Berührungen die Sehnsucht der Protagonistinnen nacheinander bewusst wird.

Film zu sehen auf DVD beziehungsweise zu leihen/kaufen bei Prime.

Von Anna Kröll @anna.m.kroe

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Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Vom schmerzhaften Prozess der Abnabelung: Davon handelt der neue Roman „Anleitung ein anderer zu werden“ von Édouard Louis. Ein anderer zu werden heißt in diesem Fall sich von seiner Herkunft aus Nordfrankreich, der Zukunft als Arbeiter in der Fabrik, der Armut und dem tristen Leben seiner Eltern zu befreien, um in der Klassengesellschaft Frankreichs aufzusteigen.

Auch dieser Roman von Louis hat autofiktionale Tendenzen und berichtet von seiner Jugend und seinem Prozess des Erwachsenwerdens: Er wächst in ärmlichen Verhältnissen in der tiefsten Provinz auf. Dort wird er – der schwule Außenseiter – von den anderen Jungen aus der Schule gemobbt, von den Eltern übersehen und oftmals sich selbst überlassen. Damals nennt er sich noch Eddy; doch nach einem Schulwechsel auf das Gymnasium in Amiens beginnt seine Metamorphose. Er bricht aus, um existieren zu können. Er spielt Theater, verschlingt Bücher und freundet sich mit Elena an. Ihre Familie nimmt ihn auf und er lernt Schritt für Schritt sich besser auszudrücken, entwickelt ein Kunst- und Kulturverständnis und ändert seinen Namen zu Édouard, da dieser Name laut Elenas Mutter viel besser zu seinem neuen Leben zu passen scheint und „weniger proletenhaft“ wirkt. Alles, was er will, ist weg. Weg aus dem Dorf, dem tristen Vorgarten, dem Geruch nach Fett und weg von der Glotze, die den ganzen Tag über läuft. Dafür bricht er auch mit seinen Eltern, die einfach nicht verstehen können, warum ihr Sohn sich so verändern will.

In diesem Buch merkt man immer wieder was nicht ist: Eddy passt nicht in die Welt der Reicheren hinein, ist nicht gebildet genug, hatte nicht die gleichen Chancen wie alle anderen seiner Mitschüler in Amiens. Also arbeitet er hart an sich. Verändert sich, um besser in diese Welt zu passen. Dann lernt er den Schriftsteller und Philosophen Didier Eribon kennen und dieser verändert alles. 

Während Édouard in Amiens die Chance auf ein gutbürgerliches Leben gehabt hätte, strebt er nun nach mehr und bereitet sich darauf vor auf eine Elite-Uni in Paris aufgenommen zu werden, da er sich einredet, es bei einer Aufnahme endlich geschafft zu haben: Endlich ein anderer zu sein und nie wieder zurück ins Dorf zu müssen. 

Édouard Louis schildert sehr genau und ausführlich, wie sich seine Jugend abgespielt hat. Vordergründig liest sich sein Buch wie eine Autobiografie, die sich vor allem auch sehr mit der Entdeckung seiner Sexualität auseinandersetzt. In seinen nächtlichen Streifzügen durch Paris, reißt er immer wieder Männer auf, die aus der gebildeten Mittel- oder Oberschicht stammen. Immer wieder stellt er sich die Frage, ob er all die Männer, die ihm bei seinem Aufstieg helfen voranzukommen, ausnutzt oder sich gar prosituiert. Der Erzähler bricht auch immer wieder die Erzählperspektive und richtet sich direkt an den Vater, wohl wie, um sich bei diesem für die soziale Odyssee seines Sohnes zu entschuldigen. „Anleitung ein anderer zu werden“ ist weniger aggressiv als die Vorgänger von Édouard Louis, aber es verliert nichts von seinem pointierten und mitreißenden Stil. 

Am spannendsten wird es immer, wenn er in ungeschönter Weise erzählt, wie er sich selbst trainiert, selbst so hart an sich arbeitet um alles, was ihn ausmacht, hinter sich zu lassen. Er spielt eine Rolle, um auf Distanz zu seinem Leben zu treten, eine Rolle, um aus dem Leben, das ihm qua Geburt aufgezwungen wurde zu treten. Und er siegt letztendlich. Aber zu welchem Preis? Wie glücklich kann ein Leben werden, wenn man immer nur auf der Flucht vor sich selbst und seinen Wurzeln ist? 

Vielleicht ist es durch die Ernsthaftigkeit des Themas ein etwas ungewöhnlicherer Lesetipp, aber es lohnt sich ungemein mal reinzuschauen!
Für Lesemuffel gibt es auch das parallel zum Titel erschienene Hörbuch, das von Patrick Güldenberg wunderbar einfühlsam gelesen wird. ☺ 

Von Ida @ida_ge

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Jessica Au – Kalt genug für Schnee

Kalt genug für Schnee hat etwas Meditatives, das zeitweise etwas surreal daherkommt und doch glasklar und präzis in Erscheinung tritt. Es ist die Geschichte über die Fremdheit zwischen Mutter und Tochter, die eine ungewöhnliche Reise nach Japan unternehmen und ihrer gemeinsamen Sehnsucht nach Verbundenheit nachkommen möchten – eindringlich, kühl und elegant beschrieben. Sie spazieren entlang der Kanäle, essen in dampfenden Garküchen, besichtigen Galerien und sind auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache, bemüht um Verständigung und Nähe in einer fremden Welt. In den präzisen Beschreibungen der Peripherien der Städte, Gärten und Tempelanlagen, die sie besichtigen, verbünden sich Naturbeobachtungen mit zwischenmenschlichen Feinheiten, die bei mir eine Ahnung davon durscheinen lassen haben, dass man vielleicht manchmal am besten damit beraten ist, nur beobachtend in der Welt zu sein.

Jessica Aus schmales Buch, wunderbar aus dem Englischen übersetzt durch Brigitte Jakobeit, schafft auf wenigen Seiten, woran die meisten scheitern – ein betörend schöner Roman, der ganz ohne nostalgische Melancholie auskommt und doch leise und kühl strahlt.

Von Timo Vogt @schlimovgt

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Cornelia Travnicek – Harte Schale, Weichtierkern

Als die 16-Jähirge Fabienne heimlich zum Psychiater geht, soll sie ein Tagebuch schreiben. Das Ergebnis halten wir in den Händen: „Harte Schale, Weichtierkern“ ist – ja, was eigentlich?

Fiktional, aber kein Roman. Voller Zeichnungen, vor allem Oktopusse, aber keine Graphic Novel. Wir lesen Diagramme, Listen und Mind Maps, aber definitiv kein Sachbuch.

Eins ist sicher: „Harte Schale, Weichtierkern“ ist lesenswert! Mit viel Fingerspitzengefühl, plattem und dann wieder sehr feinsinnigem Humor lässt die Autorin Cornelia Travnicek ihre Fabienne zu uns sprechen. Der Grund, weshalb Fabienne zum Psychiater geht, ist die Trennung von ihrem Freund, ist die Undurchschaubarkeit der Menschen, ist das Rätsel vor dem Fabienne in Gesprächen mit anderen oft steht, ist die Überforderung. Ihr Psychiater nennt es Asperger.

Der Grund, weshalb Fabienne nur heimlich zur Therapie geht: „In meiner Familie ist man nicht komisch, und wenn man komisch ist, ist das normal, und wenn man meint, nicht normal zu sein, dann zerdenkt man das nicht alles so, übertreibt nicht mal wieder, sondern man stellt sich gefälligst nicht so an, Fabienne!“

Das unkonventionelle Zusammenspiel von Illustrationen, Fabiennes ganz persönlichen Gedanken und den Definitionen, Erklärungen und Infoblöckchen eröffnet einen leichten, geradezu spielerischen Zugang zu dem Thema. So viel Spaß es macht, Fabienne auf ihrer reflektierenden und oft genug auch selbstironischen Reise zu sich selbst zu begleiten, so sehr wünscht man sich, dass diese Reise noch einige Schritte weiter ginge. Während Fabienne ein neues Verhältnis zu ihrem Ex aufbaut und Freund:innen findet, die ihr ähnliche sind, bleibt der Familienkonflikt ungeklärt. Fabiennes Diagnose bleibt ihr Geheimnis – warum eigentlich? Dennoch ist „Harte Schale, Weichtierkern“ eine klare Empfehlung für einen kleinen Lesesnack in der Weihnachtszeit.

Von Natalie Wetzel @krakelkladde

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Gün Tank – Die Optimistinnen

Einen weiteren wichtigen Beitrag zum Diskurs über die sogenannten „Gastarbeiter:innen“ in der BRD – ihr Arbeitsleben, ihren Alltag, ihre Kultur und vor allem ihre Beteiligung am als Wirtschaftwunder bezeichneten Aufstieg Deutschlands in der Nachkriegszeit – liefert nun Gün Tank mit ihrem Buch Die Optimistinnen. Im Untertitel heißt es „Roman unserer Mütter“ und es ist genau das: ein literarisches Denkmal für all die Frauen, die in den 1960er und 1970er Jahren im Zuge der zahlreichen Anwerbeabkommen, häufig alleine, in die BRD gekommen sind. Der Roman erzählt im Wechsel die Geschichte der jungen Nour, die 1972 zunächst in der Oberpfalz landet, und aus der Ich-Perspektive die Kindheitserinnerungen einer Erzählerin, offenbar Nours Tochter. 

Mit großer Zärtlichkeit und feinem Humor beschreibt Gün Tank den Alltag der jungen Frauen im Wohnheim, die Herausforderungen mit Sprache und Bürokratie, vor allem aber ihre Freundinnenschaften und die Solidarität. Ein ebenso großer Fokus liegt allerdings auf ihrem Arbeitsalltag, zunächst in einer Porzellanfabrik, später dann im Werk eines Automobilzulieferers in Neuss. Die Darstellung dieses historisch verbürgten Streiks bei Pierburg, der letztendlich zur Abschaffung der sogenannten Leichtlohngruppe geführt hat, einem besonderen Instrument der Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft, ist einer der Höhepunkte des Buches. Und obgleich Tanks Fokus eindeutig auf dem Zusammenhalt und der Solidarität der Frauen liegt, die mit fortschreitendem Streik letztendlich auch von den männlichen Arbeitern und Facharbeitern unterstützt werden, sie eben ein Buch über „Optimistinnen“ geschrieben hat, romantisiert sie nicht, blendet die Polizeigewalt ebenso wenig aus wie die Herablassung der Chefs. Denn optimistisch zu sein und zu bleiben ist für die meisten Arbeiter:innen keine heroische Option, sondern schlichte Notwendigkeit.

Nours hartem Alltag, dessen Erzählstrang handlungsgetrieben flott voranschreitet, steht der Blick ihrer Tochter gegenüber, der durch die entsprechende zeitliche Distanz, die klar durch die Überschrift „Heute, eingetaucht im Gestern“ markiert wird, viel mehr überblicken kann. Hier wird das Bild nochmal etwas erweitert und das Tempo etwas rausgenommen. Die Familie in Istanbul kommt ins Bild, außerdem werden einige der Erlebnisse aus der Haupterzählung nochmal aufgegriffen und präzisiert, gegebenenfalls Fakten nachgeliefert, beispielsweise besagten Streik bei Pierburg betreffend. Dennoch überwiegt hier ein eher poetischer Ton, der die Liebe und den Respekt für die Mütter gut zum Tragen kommen lässt.

Wie sehr in Deutschland noch heute von den Leistungen der Arbeitsmigrant:innen profitiert wird, kann hier nur erahnt werden. Umso wichtiger ist der sich nun stetig erweiternde Diskurs zu diesem Thema, dem auch Beiträge wie der Film Liebe, D-Mark und Tod von Cem Kaya zuzurechnen sind. Keinesfalls sollen diese sehr verschiedenen Ansätze nun in einen Topf geworfen werden, sie seien nur exemplarisch für einzelne Facetten des Diskurses genannt, die dann ihrerseits weiter verweisen können.

Wilde Streiks übrigens, also solche, die ohne die Beteiligung einer verantwortlichen Gewerkschaft abgehalten werden, wie eben jener, der zur Abschaffung der Leichtlohngruppe geführt hat, sind in Deutschland bis heute verboten. Und auch die Abschaffung des Achtstundentags steht momentan in Bayern wieder zur Debatte.

Von Friederike Schormann

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Eeva-Liisa Manner – Das Mädchen auf der Himmelsbrücke

„Die Musik war weder fröhlich noch traurig, sie war unerklärlich und dennoch selbstverständlich wie Wasser – ein Wasser, das so klar war wie der Himmel und unter dem es keinen Boden gab.“

In „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ erzählt die finnische Schriftstellerin Eeva-Liisa Manner (1921-1995) von der neun Jahre alten Leena, die sich zutiefst alleingelassen und unverstanden fühlt: Da ist die mit ihrer eigenen Trauer verhangene Großmutter, das kühle Unverständnis der Lehrerin, die ganze graue Alltäglichkeit. Bis sie auf Bruder Filemon und sein Orgelspiel trifft und sich ihre Welt grundlegend verändert.

Basierend auf ihren Kindheitserinnerungen erzählt Eeva-Liisa Manner von Vergänglichkeit, von Einsamkeit, von Traum und Wirklichkeit. Das tut sie auf eine sehr einfühlsame und irgendwie tröstliche Art und Weise, in einer klaren und unwahrscheinlich poetischen Sprache – von Maximilian Murmann wundervoll aus dem Finnischen übersetzt.

Eine große Leseempfehlung, auch und gerade gegen das winterliche Grau in Grau.

Von Mira @mira_tamina

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