Unerhörte Stimmen von Elif Shafak © Juliane Korneli

Wenn unerhörte Stimmen sprechen

In ihrem Roman Unerhörte Stimmen erzählt Elif Shafak von geteilten Schicksalen, von Frauenfreundschaften und davon, wie es ist, am Rande einer tief gespaltenen Gesellschaft zu leben.

von Juliane Korneli

© Juliane Korneli

Die Geschichte beginnt mit dem Tod

Der 2019 erschienene Roman von Elif Shafak beginnt so, wie die meisten Geschichten enden. Im ersten Kapitel ist die Protagonistin bereits tot. Aber irgendwie auch nicht, denn sie beginnt zu sinnieren und zu erzählen. Über ihre Metamorphose vom verträumten Mädchen namens Leila zur Prostituierten, genannt Tequila Leila. Bereits der englische Originaltitel 10 minutes and 38 seconds in this Strange World deutet auf die Rückblende des eigenen Lebens hin, auf den Abspann, der wohl vor dem inneren Auge abläuft, während das Herz längst aufgehört hat zu schlagen.

Alle dachten, Leichen wären leblos wie gefällte Bäume oder hohle Stümpfe, ohne Bewusstsein. Hätte man ihr die Gelegenheit gegeben, hätte Leila bezeugt, dass Leichen ganz im Gegenteil nur so strotzten von Leben.

Da sind zunächst Gerüche und Geschmäcker

Die womöglich gewaltsam ermordete Leila liegt nun also tot in einem Müllcontainer am Stadtrand von Istanbul und schwelgt in Erinnerungen. „Ein letzter Rest Energie aktivierte zahllose Neuronen und verknüpfte sie wie zum ersten Mal miteinander.“ Da sind zunächst Gerüche und Geschmäcker, Sinneswahrnehmungen verknüpft mit Schlüsselmomenten der 43-Jährigen. Der Geschmack von Salz, von Zitrone und Zucker, von Kardamonkaffee. Der Duft von Wassermelonen und Gewürzen. Jeder dieser Eindrücke bringt eine Erinnerung ans Licht. Zum Beispiel den hoffnungsvollen Moment, als Leilas Bruder zur Welt kommt, oder den Tag, an dem die Frauen der Nachbarschaft für das gemeinsame Haarentfernungsritual zusammenkommen. Ebenso den traumatischen Sommer, in dem der Onkel nachts zu ihr ins Bett steigt, oder den Augenblick, in dem Leila klar wird, dass sie niemals Rückhalt von ihrer Familie erfahren wird und beschließt, aus ihrer Heimatstadt Van ins entfernte Istanbul zu fliehen.

Mit Istanbul würde sie fertigwerden, hatte sie geglaubt. Sie hatte sich vorgenommen, die Stadt mit deren eigenen Waffen zu schlagen. So ahnungslos war sie damals gewesen. Doch sie war kein David und Istanbul kein Goliath.

Die fünf Ausgestoßenen

Wie so oft verläuft auch Leilas Suche nach einem besseren Leben nicht so wie geplant. Und doch ist ihr neues Zuhause in der Straße der Bordelle eines, das sich aushalten lässt, irgendwie. Einerseits durch die gewonnene Freiheit, andererseits durch die Bekanntschaften, die unerwartet in Leilas Lebens treten. Da ist Nostalgie Nalan, die vom Alkohol verbrauchte und vom Anschaffen auf dem Straßenstrich zäh gewordene Transfrau. Außerdem Zaynab122, kleinwüchsig und äußerst gläubig. Neben der geflüchteten Sexarbeiterin Jamila, noch die übergewichtige Hollywood Humeyra, die versucht als Sängerin in zwielichtigen Bars und Kneipen über die Runden zu kommen. Zu guter Letzt der feinfühlige, heimlich in Leila verliebte Sabotage Sinan, das einzige Überbleibsel aus Kindertagen in Van. Jeder Figur wird ein eigenes Kapitel gewidmet, ebenso wie jeder bleibenden, mit Gedächtnisfetzen gefüllten Minute Gehirnaktivität.

Mehr als fünf Freunde durfte man Leilas Meinung nach nicht erwarten, denn schon ein einziger war ein Glücksfall. Hatte man es ungewöhnlich gut getroffen, waren es zwei oder drei […] Wem das nicht ausreichte, der riskierte die Freunde, die er bereits besaß.

Istanbul: Abgrund und Sehnsuchtsort

Shafak, promovierte Politikwissenschaftlerin und mittlerweile in London lebend, wählt für ihren Roman ein Setting, das die politischen Großereignisse der Türkei der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts miteinbezieht. So wird beispielsweise der zentral liegende Taksim-Platz in Istanbul zum Handlungsort. Der Platz, auf dem auch die Protagonistin in einen der gewaltsam niedergeschlagenen Studentenproteste von 1977 hineingerät. Anhand von Einzelschicksalen entwirft die Autorin Stück für Stück ein historisches Panorama des Landes, in das sie selbst aufgrund von Zensur und juristischer Verfolgung nicht mehr reisen kann. Die ambivalente Beschreibung der Stadt Istanbul, „die eine weibliche Stadt ist und immer war“, als abgründiger Metropole und Sehnsuchtsort zugleich, gelingt ihr auf so feinfühlige Art und Weise, dass man wehmütig wird, ohne je dort gewesen zu sein.

Istanbul war eine Illusion, ein misslungener Zaubertrick, ein Traum […] Denn in Wahrheit gab es kein Istanbul, sondern viele Istanbuls, die, immer in dem Wissen, dass am Ende nur eines überleben würde, miteinander stritten, konkurrierten und kollidierten.

Von Stereotype und Distanz

Vor allem aber weist die Autorin auf ein gesamtgesellschaftliches Problem hin, nämlich auf die Diskriminierung marginalisierter Gruppen, insbesondere der von Frauen. Auf den Umgang mit Trans- und Behindertenfeindlichkeit, stereotypen Geschlechterrollen und religiösen Konflikten. Shafak richtet ihr Augenmerk auf die Randständigen einer durch Gegensätze geprägten Gesellschaft. Doch genau dann, wenn diese unerhörten Stimmen endlich laut werden, wirken sie selbst wie Stereotype. Oftmals sind sie durch das Fehlen von charakterlicher Tiefe nur als Vertreter*innen der diskriminierten Gruppe greifbar, für die sie stehen sollen. Auch die Lebensverhältnisse in der Prostitution werden immer wieder romantisiert. Zudem wird die Distanz zur Anführerin der Ausgestoßenen, die man zunächst liebgewinnt und über deren Kindheit und Jugend man im ersten Teil des Romans so viel erfährt, mit fortlaufender Handlung immer größer.

Sind Frauenfreundschaften oberflächlich?

Während man die Distanz zu den Figuren zulässt und sich damit abfindet, dass man nicht so richtig an sie herankommt, verliert die Geschichte zunehmend an Spannung. Spätestens als es um Leilas Mord und die wilde Rettungsaktion ihrer Leiche vom „Friedhof der Geächteten“ geht – der im Übrigen wirklich existiert – ist die Luft raus. Zahlreiche Nebenhandlungen lenken vom vordergründigen Motiv ab. Von Zusammenhalt und Freundschaft, also von dem, was die Frauen letztendlich verbinden soll, erfährt man nur wenig. Dies erweckt den Anschein, als sei es selbstverständlich, dass fünf Frauen, nur weil sie das Schicksal des Ausgegrenzt-Seins teilen, beste Freundinnen werden – ist ja klar. Dahinplätschernde Dialoge über vergangene Party-Eskapaden verstärken dies noch. „Hauptsache wir Mädels haben uns“, scheint die Moral der Geschichte. Leider wird damit das Klischee von oberflächlichen Frauenfreundschaften bedient. Eines der Klischees, mit denen der Roman doch eigentlich brechen will.

Unerhörte Stimmen werden laut

Natürlich kann auch dieser Umgang mit prekären Lebensumständen produktiv sein, indem man diese als Kollektiv erlebt und sie versucht mit Humor zu nehmen. Aus einer Position heraus, in der man selbst alles andere als marginalisiert und diskriminiert ist, lässt sich der Halt, den Freundschaft in solchen Lebenslagen geben kann, höchstens erahnen. Nichtsdestotrotz erzählt Elif Shafak anhand ausdrucksstarker Bilder und mit einem Anflug von Witz, ohne den die ein oder andere drastische Szene vermutlich schwer zu ertragen wäre, von Selbstermächtigung und vom Anderssein. Es entsteht das Porträt von fünf Frauen, die zwischen den Welten existieren und keinen Platz in der tief gespaltenen, türkischen Gesellschaft der 60iger bis 80er Jahre finden, deren Kontroversen kaum an Aktualität verloren haben. Die Stimmen aus der Welt der „Geächteten“ bleiben dabei zwar distanziert und nicht ganz greifbar – aber sie sprechen.

Elif Shafak: Unerhörte Stimmen. Kein & Aber, 2019.


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