Milena Michiko Flašar

„Ich bin sogar verliebt“

Am 15. Februar lud der Wagenbach Verlag herzlich in die österreichische Botschaft ein. Der Grund: Milena Michiko Flašar hat seit 2012 das erste Mal wieder einen Roman veröffentlicht. Nach ihrem letzten Erfolg, „Ich nannte ihn Krawatte“, mehrfach ausgezeichnet und 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, präsentiert die österreichische Autorin ihr viertes Buch, das am 2. Februar diesen Jahres das Licht der Welt erblickt hat: „Herr Katō spielt Familie“. 

Milena Michiko Flašar
© Josi Longmuss

Anne-Dore Krohn vom RBB kulturradio moderiert die Buchpremiere im Österreichischen Kulturforum Berlin, Susanne Schüssler, Verlegerin des Wagenbach Verlags, leitet die Veranstaltung ein. Kein Wort hätte Frau Flašar gesagt. Dass sie wieder schreibt. Doch natürlich war das Buch sehnsüchtig erwartet. Milena Michiko Flašar sieht das entspannter. Sie habe durch den zeitlichen Abstand zum letzten Roman viel weniger Druck empfunden. Das einzige was ihr wirklich wichtig war, war es „nicht noch einmal die Krawatte zu schreiben“. Ein Vorhaben, das ihr definitiv gelungen ist.

Die Frauen Flašar und Krohn betreten den vollen Saal und Applaus brandet auf. Sie nehmen Platz auf der Bühne und machen es sich dort auf zwei Stühlen gemütlich. Milena Michiko Flašar ist eine kleine und zierliche Frau – ihre Statur und Gesichtszüge lassen ihre japanischen Wurzeln erahnen. Der deutlichere Hinweis ist allerdings ihr Roman, der schon ihr zweites Werk ist, das in Japan spielt. Auf Nachfrage erzählt sie, dass sie erst später im Leben ihr intensives Interesse an der japanischen Kultur sowie Literatur entdeckt hat. Literarisch mit dieser Thematik zu arbeiten mache ihr Spaß.

Als Milena Michiko Flašar aus ihrem Roman liest, haucht sie ihrem Text ein Leben ein, von dem man nie wusste, dass es den gedruckten Worten gefehlt hat. Ihre Stimme ist klar und hell und sie liest so gefühlvoll, dass man sich automatisch wünscht, sie möge den ganzen Roman vorlesen, da man sonst eine ganze Ebene des Erzählten verpasst. Als sie die ersten Seiten des ersten Kapitels liest, ist Herr Katōs rastloses Leiden beinahe mit Händen zu greifen. Diese unbestimmt Unruhe, die er empfindet, schon fast mit einem schlechten Gewissen, denn ihm geht es ja gut, schwingt mit jedem Wort mit. Auch die Momente, die ernst und in denen Herr Katō eher unverträglich ist, liest sie mit Humor und einer gewissen Leichtigkeit, sodass man sich absolut sicher ist, dass er es nicht so gemeint hat. Obwohl Flašar aus Österreich ist, spricht und liest sie dialektfrei.

Die Fragen von Frau Krohn beantwortet sie mit dem ihr eigenen Charme, wenn sie zum Beispiel verlegen grinsend erklärt, dass Herr Katō eben doch manchmal gemacht hat was er wollte. Oder wenn sie gesteht, dass sie den Roman zuerst aus Sicht von Katōs Frau schreiben wollte. Aber das wäre ein deprimierender, leidvoller und gar gehässiger Roman geworden, erklärt sie dann, weil sich Katō ihr gegenüber doch oft nicht nett benimmt. Und das wollte sie nicht. Sie wollte keine

Leidensgeschichte einer unterdrückten Ehefrau, sondern einen Roman ohne Wertung schreiben.
Auf die Frage, wie sie denn persönlich zu Herrn Katō steht, lächelt sie. Sie habe ein sehr gutes Verhältnis zu ihm, nach all den Jahren, die sie miteinander verbracht haben. Sie ist eigentlich sogar verliebt. Die zuerst angedachte düstere Grundstimmung hat sich nur durch ihn aufgelockert und seine humoristischen Elemente bekommen. Sie fügt hinzu, dass sie auch seine Eigenarten, sein Schwitzen, seine Hilflosigkeit und seine Wut als liebenswert findet und glaubt, dass sich Menschen mit diesen realistischen Charakterzügen gut identifizieren können. Frau Krohn vom RBB kulturradio fragt nach einer besonderen seiner Eigenarten: jedes Mal, wenn er an der Brache bei seinem Haus vorbei kommt, grüßt er die Mäuse, die dort wohnen. Warum? „Das hat er wirklich von sich aus gemacht“ antwortet Flašar und lacht mit dem Publikum.

Milena Michiko Flašar
Milena Michiko Flašar ©Helmut Wimmer

Zum Roman:

Er ist neuerdings Rentner und weiß nicht, was er mit seiner ganzen Zeit anfangen soll. Die Arbeit hat lange Zeit Dreh- und Angelpunkt seines Lebens dargestellt und nun weiß er nicht wohin mit sich. Rastlos, aber trotzdem antriebslos schreibt er Listen, die er nicht abarbeitet, lässt vor lauter Frust seiner jähzornigen Ader, besonders seiner Frau gegenüber, einmal öfter Luft als sonst und hofft sogar auf eine schlechte Nachricht vom Arzt, der ihm bei der Routineuntersuchung allerdings nur sagt, dass er kerngesund sei. Dabei hätte ihm eine Krankheit Beschäftigung und vielleicht etwas mehr Zuwendung von seiner Frau verschafft. Denn seine Ehe ist angespannt. Von Entfremdung gezeichnet, haben er und seine Frau zwar einige gemeinsame Momente, die das frühere Glück erahnen lassen, scheinen sich ansonsten aber nicht mehr nahe zu stehen. Durch die Arbeit oft nicht anwesend, hat er auch kein tiefes Verhältnis zu seinen Kindern aufbauen können, die Bezugsperson ist und bleibt seine Frau.

Auf einem Spaziergang lernt er dann eine junge Frau kennen, die sich Mie nennt. Sie erklärt ihm aber, dass sie nur jetzt gerade Mie heiße, da sie gerade eine Mie gespielt hätte. Denn sie spiele hauptberuflich Familie. Von Kunden engagiert, spiele sie als so genanntes Stand-In mal eine Schwester, die auf der Hochzeit ihres Kunden erzählt, wie schön ihre gemeinsame Kindheit gewesen sei, mal eine Enkelin, die endlich einmal Tee mit ihrer Großmutter trinkt. Sie spiele als Schauspielerin eben genau die Familie, die Leute nicht haben aber gerne hätten. Sie gibt ihm ihre Karte und bietet ihm an, ebenfalls als Stand-In tätig zu werden. Ein kurzer Blick auf sein Leben lässt ihn das Angebot annehmen.

In seiner ersten Rolle ist er Großvater. Herr Katō, so nennt Mie ihn auch weiterhin, soll mit seinem Enkel spielen, weil der echte Herr Katō nicht akzeptieren kann, dass dieser Enkel halb Afroamerikaner ist. Danach ist er Ehemann, der nichts sagen darf, damit die Kundin zur Abwechslung mal zu Wort kommt und ausprobieren kann, wie es ist, ihrem Mann Scheidungspapiere vor die Nase zu legen. In seiner dritten Rolle ist er Chef, der auf der Hochzeit seines Angestellten eingeladen ist.

Jede dieser Rollen gibt ihm Denkanstöße für sein eigenes Leben. Doch so wie er hat auch seine Frau eine Beschäftigung gefunden, der plötzlichen (räumlichen) Nähe zueinander aus dem Weg zu gehen: Sie hat seit lange Zeit wieder angefangen Ballett zu tanzen, doch auch da kann er sich für sie nicht so recht freuen. Sie hat eine ihrer Sehnsüchte in Angriff genommen, aber er selbst kann das nicht so recht. Denn er hat auch Sehnsüchte. Den kleinen weißen Spitz zum Beispiel, der das Spazierengehen so viel schöner machen würde. Oder die Reise nach Paris, die er vor seiner Pensionierung so groß in der Firma angekündigt hatte. Doch er und seine Angst vor Veränderungen blockieren ihn. Erst später, als er weiß wie es ist, mit einem Enkel Ball im Garten zu spielen, als er weiß, wie eine Frau aussieht, die ständig unter ihrem Mann gelitten hat und als er weiß, wie man sich als Chef fühlt – eine Rolle, die er trotz beruflicher Aufopferung im echten Leben nie spielen durfte – kann er an sich, seinen Grenzen und seinen Ängsten etwas rütteln.

Besonders thematisiert werden die Rente als Lebensphase, die Ehe nach der Pensionierung und das RHS, das sogenannte Retired Husband Syndrome, das Frauen befällt, wenn ihre Männer in Pension gehen und ihre plötzliche ständige Anwesenheit psychosomatische Beschwerden hervorruft. Stress, Schlafstörungen sowie Hautirritationen können Folgen sein. Wenig schmeichelhaft werden diese Männer auch als Sperrmüll (schwerer Ballast, der zur Last fällt) oder feuchtes Laub (klebt an den Schuhsohlen der Ehefrauen) bezeichnet. Dieses Syndrom ist Frau Flašar in der japanischen Literatur begegnet, woraus Herr Katō und die Stimmung seiner Geschichte geboren wurden.

Besonders viel passiert nicht in diesem schlanken Roman, doch das gewichtige an ihm ist auch nicht unbedingt die Handlung, sondern die Atmosphäre. Die Grundstimmung, die zunächst recht deprimiert ist – er wünscht sich eine Krankheit, lügt deshalb sogar seine Frau an, weil ihm das noch lieber ist als mit sich und seiner Zeit ganz alleine zu sein – lässt aber immer wieder kleine Lichtblicke zu, mal nostalgisch-schön, mal witzig. Herr Katō selbst ist nicht, wie vielleicht erwartet, der liebe, kauzige alte Mann. Er hat Ecken und Kanten, die aber einen dreidimensionalen Charakter zeichnen. Seine Wutausbrüche lassen ihn bisweilen unsympathisch wirken, besonders, wenn man sich fragt, was ihm seine arme Frau denn getan hat, dass er manchmal so überreagiert. Er bewegt Gedanken und Gedankengänge aber so menschlich und authentisch in seinem Kopf herum, dass man ihn einfach den Menschen sein lassen möchte, der er ist, auch wenn man sich zunächst vielleicht den lieben Greis gewünscht hat. Im Endeffekt ist Inhalt dieses Buchs auch kein heldenhafter Epos mit makellosem Krieger – es ist ein alter Mann, der vom Leben etwas zermürbt in eine Krise gefallen ist. Ein solcher Roman verlangt nach einem fehlerhaften Protagonisten.

Die Welt, die Flašar geschaffen hat, ist skizzenhaft angelegt, zu viele Details werden auf der einen Seite vermieden, wie zum Beispiel Ortsnamen oder die echten Namen der handelnden Personen. Auf der anderen Seite werden manche Details bis ins Kleinste beobachtet. Auch wenn Herr Katō von seiner Umgebung etwas distanziert und losgelöst wirkt, beobachtet er sie mit teilweise entnervender

Genauigkeit. Seine Frau möchte ihm zeigen was sie im Tanzkurs gelernt hat, doch er kann nur auf ihre Körpermitte achten, an der sie mit den Jahren ziemlich zugenommen hat. Oder die Ballettaufführung, die er mit seiner Frau besucht hat, bei der er aber nur das Aussehen der Ballerina und den Leberfleck an ihrem Bein kritisieren konnte. Dieses Spiel aus scharfer und unscharfer Wahrnehmung lässt den Leser diese Ereignisse aus Katōs Augen sehen, nicht zwangsweise, um sich mit ihm zu identifizieren, sondern um einfach unverstellt zu zeigen, wie er seine Realität wahrnimmt. Die Schreibweise und die Wortwahl, Sätze die oft unfertig und bruchstückhaft aneinandergereiht wurden, verstärken diesen Eindruck nur.

Der Gesamteindruck von „Herr Katō spielt Familie“ ist, dass dies eine Momentaufnahme aus Katōs Leben ist. Viel Stimmung und Atmosphäre werden aufgebaut um diese eine Phase im Leben eines alten japanischen Mannes zu vermitteln. Das angespannte Verhältnis zu seiner Frau, die Distanz zu seinen Kindern oder das Fehlen einer vernünftigen Erdung in seinem Leben – all das wird nicht nach dem Hollywoodschema in eine hübsche Schleife gewickelt und abgehakt. Es gibt aber Veränderungen – und genau das macht diesen Roman so realitätsnah. Er lernt doch noch, etwas loszulassen und auf der anderen Seite Dinge (seine Ehe) nicht zu sehr loszulassen. Im Endeffekt bleibt, wenn man das Buch nach der letzten Seite zuschlägt, kaum die genaue Handlung sondern dieses Gefühl zurück, das diese Momentaufnahme in einem hervorgerufen hat.

Wer also seine Bücher mit Action und Explosionen haben möchtet, ein Happy End braucht, in dem jeder Handlungsstrang verschnürt und der Protagonist der coolste Typ unter der Sonne ist – vielleicht ist dieses Buch nicht die beste Wahl. Wer aber emotional einmal eine andere Person „anprobieren“ möchte, sehen möchte wie er in welchen Situationen reagiert und denkt, wie seine Fragen kreisen und sein Leben aus einer Krise wuchten möchte, die mal mehr, mal weniger nach Depression riecht – hier könnte etwas ganz besonderes auf Euch warten.

Von Josi Longmuss

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